Als ich den britischen Regisseur Ken Loach im Dezember 1991 zum ersten Mal zu einem Interview traf, war ich verblüfft, wie uneitel und aufgeschlossen er auf mich zukam. Nicht er sah sich im Mittelpunkt, sondern die Geschichte seines Films.
Loach hatte damals für seinen Film RIFF- RAFF den FIPRESCI-Preis in Cannes gewonnen, im Dezember wurde das Werk mit dem Europäischen Filmpreis in der Kategorie bester Film ausgezeichnet, weitere Preise folgten. Doch ich hatte den Eindruck, dass Loach die Auszeichnungen nicht so wichtig waren, wie die Botschaft, die er schon damals vermitteln wollte: Nichts wird sich verändern, solange wir das System nicht ändern. (Ken Loach)
RIFF RAFF (1991) ist eines der vielen Werke, in denen Ken Loach die sozialen Missstände in Großbritannien aufdeckt – scharf und gleichzeitig humorvoll thematisiert der Film die katastrophalen Zustände auf einer Baustelle am Rande Londons zur Regierungszeit von Premierministerin Margret Thatcher.
Ken Loach ist der wohl prägendste Vertreter des britischen Sozialdramas. Er hat sich während seiner gesamten Karriere immer wieder für Einzelschicksale und Geschichten von Menschen am Rande interessiert, für die Außenseiter der Gesellschaft. Bisweilen komödiantisch, mit feinem britischem Humor, unterhaltsam und spannend erzählt, prangert er gesellschaftliche Missstände an. Das Besondere an seinen Filmen ist, dass er sich nicht über die Menschen stellt, von denen er erzählt, sondern in ihren Dienst.
Das macht er jetzt seit fast 60 Jahren, seit er als junger Filmemacher mit seinem für die BBC produzierten Sozialdrama über Obdachlosigkeit CATHY COME HOME (1966) landesweit Aufsehen erregte. Seitdem gibt Loach den Benachteiligten und Schwachen der Gesellschaft eine Stimme. Seine Werke erzählen nicht nur von der Situation der britischen Arbeiterklasse in Großbritannien – er schaut auch über die Grenzen, wie in seinen Filmen über die sandinistische Revolution in Nicaragua CARLA´ S SONG, (1996) und den irischen Brüderkrieg THE WIND THAT SHAKES THE BARLEY (2006).
Sein jüngster Film THE OLD OAK verhandelt die Themen Integration und Solidarität. Dass Drehbuch hat Ken Loach wieder mit seinem langjährigen Autor Paul Laverty entwickelt.
In Durham, einer ehemaligen Bergarbeiterstadt im Nordosten Englands, sorgt 2016 die Ankunft von syrischen Bürgerkriegsflüchtlingen für Aufruhr und spaltet die Bevölkerung.
Im Zentrum des Films steht der Pub THE OLD OAK, hier treffen sich die Bewohner der einst blühenden Bergbaugemeinde. Vor Jahren wurden in Durham die Kohlegruben dichtgemacht. Man kommt zusammen im einzigen Pub, den es noch gibt, redet über alte Zeiten, den Bergarbeiterstreit vor 32 Jahren. Vor allem geht es jedoch um die wachsenden Sorgen, seit die Minen geschlossen wurden und der große Ausverkauf stattfindet. Mehrere Häuser im Ort wurden in einer Online- Aktion nach Zypern verkauft, zu einem Fünftel des Preises, den die Einwohner vor Jahren für ihre Häuser bezahlt hatten. Verbitterung, Perspektivlosigkeit, gerade auch unter den Jüngeren, kennzeichnen das Leben in der Gemeinde
Ken Loach, Regisseur
,,Wir hatten schon zwei Filme im Nordosten Englands gedreht. Beides Geschichten über Menschen, die in dieser zerrissenen Gesellschaft gefangen sind. Beide endeten unweigerlich schlecht …
Unser Ausgangspunkt war der Verfall dieser Region. Die alten Industrien, Schiffbau, Stahl- und Kohlebergbau sind verschwunden und es ist nichts Neues an ihre Stelle getreten. Zahllose Gemeinden, die auf stolze Zeiten der Solidarität und lange kulturelle und sportliche Traditionen zurückblicken, wurden von Politikern beider großen Parteien dem Verfall überlassen …
Wo es keine Arbeit gibt, schwindet die Hoffnung. Entfremdung, Frustration und Verzweiflung treten an ihre Stelle und erschreckenderweise machen sich dadurch auch rechtsextreme Kräfte und Tendenzen breit …
Verschärft wurde die Situation noch durch eine weitere Wendung, als die Regierung sich endlich dazu entschloss, Kriegsflüchtlinge aus Syrien aufzunehmen.“
Besitzer des Pubs ist TJ Ballantyne, (Dave Turner), ein Einzelgänger, der einige Schicksalsschläge hinter sich hat. Im früheren Festsaal seines Pubs zeugen die Fotos an den Wänden von einstiger Solidarität unter den Bergarbeitern und den Bewohnern, jetzt ist der Raum geschlossen, eine Abstellkammer.
Als die syrischen Flüchtlinge ankommen, schlägt ihnen zunächst Ablehnung entgegen. Es gibt aber auch Menschen wie TJ, die helfen und vermitteln. Er begegnet Yara (Ebla Mari) einer jungen Syrerin, die während der zwei Jahre in einem Flüchtlingslager Englisch lernen konnte. So kann man sich verständigen, TJ unterstützt die junge Frau, auch in ihren Ambitionen als Fotografin und lernt ihre Familie kennen. Er öffnet seinen Pub für die neuen syrischen Dorfbewohner, das führt zu Auseinandersetzungen und Rivalitäten zwischen den Alteingesessen und den Neuankömmlingen.
Ken Loach, Regisseur
,,Es geht um zwei Gemeinschaften, die Seite an Seite leben. Beide leiden unter ernsten Problemen, aber eine hat auch noch mit dem fürchterlichen Trauma zu kämpfen, einem Krieg von unvorstellbarer Grausamkeit entkommen zu sein – trauernd um die, die sie verloren haben, und krank vor Sorge um die, die sie zurückließen. Diese Menschen finden sich als Fremde in einem fremden Land wieder, in dem sie auch nicht immer willkommen sind. Kann es da überhaupt ein Zusammenleben geben und wie findet man in solchen dunklen Zeiten so etwas wie Hoffnung?“
Einige Dorfbewohner im Film überwinden ihre Vorurteile, vermitteln Hoffnung. Sie lassen sich auf ihre neuen Mitbürger ein, helfen und unterstützen – ein Essen im gemeinsam hergerichteten Festsaal ist ein Anfang.
Doch es gibt auch die Anderen, Verbitterte und Enttäusche, die ihre Wut anonym im Internet oder offen in Sabotageakten zeigen. So wie Charlie, (Chris McGlade), ein Freund von TJ seit Kindertagen. Jetzt sind die einstigen Kampfgefährten im Bergarbeiterstreik entfremdet, stehen auf unterschiedlichen Seiten.
Ken Loach, Regisseur
,,Das Dorf, von dem wir erzählen, ist Teil einer größeren Gemeinschaft. Es blickt auf eine lange Geschichte des Widerstandes gegen Ausbeutung zurück. Früher musste man sich mit den Minenbesitzern herumschlagen und dann folgte in jüngerer Zeit die erzwungene Schließung der Gruben in der Ära Margaret Thatchers …
Die Schwächung der Gewerkschaften ließ die Einzelnen in ihrem Kampf allein zurück. Wenn es keine starke Gemeinschaft mehr gibt, wenn das Unternehmertum angebetet wird und nicht das Miteinander, dann verändert sich das Bewusstsein und alte Wertvorstellungen verlieren ihre Kraft. All das hat einen Einfluss darauf, ob man die neu ankommenden syrischen Familien willkommen heißt oder nicht.“
Die Ressentiments der Dorfbewohner gegen die Flüchtlinge, Loach hat wieder einmal deutlich die Realität auf die Leinwand gebannt. Er erzählt eine universelle Geschichte mit hoher Aktualität – das Ganze könnte genauso gut in einer kleinen Gemeinde in Deutschland spielen.
Auch in diesem Film arbeitet Ken Loach vor allem mit Laienschauspielern, die wir, wie Dave Turner als TJ, schon aus vorangegangenen Filmen kennen. Das funktioniert hervorragend und gibt dem Film seine Realitätsnähe und authentische Atmosphäre.
Ken Loach
,,Wir wollten Menschen, die zur Region und zum Dorf im Film gehören, ohne dass irgendjemand einen Akzent nachahmen muss. Wenn sie in eine echte Kneipe dort gehen würden, sollte sie jeder für Einheimische halten…
Auch wenn ich es nach so vielen Filmen, in denen wir es ähnlich gemacht haben, eigentlich wissen sollte, war ich auch diesmal wieder überrascht, wie viele Menschen die Fähigkeit haben, fiktive Situationen real erscheinen zu lassen.“
Altmeister Ken Loach hat mit THE OLD OAK einmal mehr den Finger auf die Wunden der Gesellschaft gelegt. Er zeigt deutlich, wie durch die Ankunft der Flüchtlinge ein Riss durch die Gesellschaft geht, er zeigt aber auch, dass gegenseitige Empathie und Offenheit der einzige humane Weg sind.
Seine Inszenierung ist nüchtern, unaufgeregt erzählt – wer filmästhetische Akrobatik oder Subtilität erwartet, wird enttäuscht. Loach ist ein Pragmatiker, ihm geht es als Autorenfilmer um die Botschaft in seinen Filmen. Das ist gut so und hat in der vielfältigen europäischen Filmkunst einen wichtigen Stellenwert.
Ken Loach ist jetzt 87Jahre alt. 15 Mal war er in Cannes eingeladen, zwei Mal hat er die Goldene Palme für den besten Film gewonnen, (THE WIND THAT SHAKES THE BARLEY, 2006 und ICH, DANIEL BLAKE, 2016), darüber hinaus zahlreiche Preise und Auszeichnungen, wie den Ehrenpreis für sein Lebenswerk der Europäischen Filmakademie (2009).
Dieses Jahr hat er angekündigt, dass THE OLD OAK sein letzter Film sein wird. Schwer vorstellbar, europäisches Kino ohne Ken Loach – einem hochpolitischen Regisseur, der mit seinem unermüdlichen Einsatz für Menschlichkeit und soziale Gerechtigkeit, aber auch mit seinem subtilen, ganz eigenen Humor Filmgeschichte geschrieben hat.
Filmtitel: THE OLD OAK
Regie: Ken Loach
Drehbuch: Paul Laverty
Verleih: Wild Bunch Germany
Filmstart: 23.11.2023