Filmkritik
Im Hier und Jetzt - Wim Wenders Film PERFECT DAYS

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Im Hier und Jetzt - Wim Wenders Film PERFECT DAYS

Der Countdown läuft – noch wenige Tage bis Weihnachten. Auf den Straßen, in den Geschäften herrscht chaotisches Gewimmel, die Menschen wirken angespannt, gehetzt. Einladungen sind ausgesprochen, verteilt und angenommen – die drei Weihnachtstage bei Vielen straff organisiert.

In diese Zeit fällt ein Film, der vom Innehalten erzählt, vom Dasein im Hier und Jetzt. PERFECT DAYS ist ein meditativer Film über einen Mann, der sich für ein Leben in Bescheidenheit und Ruhe entschieden hat.

„Was vergangen ist, ist vergangen, jetzt ist jetzt“ – das ist die Philosophie des Toilettenreinigers Hirayama, (Koji Yakusho), der Hauptfigur in Wim Wenders Film.

Bereits in den ersten Minuten zieht uns dieser Mann in seinen Bann, dabei sind es eigentlich höchst banale und alltägliche Dinge, die er verrichtet. Aufstehen, waschen, Zähne putzen, seine Setzlinge besprühen, die akkurat aufgereihten Schlüssel und dass Münzgeld mit einem routinierten Griff von der immer gleichen Stelle nehmen und in den Tag hinaustreten.
Es ist früher Morgen, die Dämmerung weicht dem ersten Licht. Hirayamas Blick geht als Erstes nach oben, in die Bäume, in den Himmel: er begrüßt den Tag.
Dann setzt er sich in seinen Kleintransporter, den er zum Putzmobil umgebaut hat, und fährt in der erwachenden Metropole Tokio zur Arbeit. Das alles geschieht schweigsam und gelassen.

Tag für Tag der gleiche Weg, die gleichen Rituale. Mit Sorgfalt und Würde reinigt Hirayama die öffentlichen Toiletten der Stadt.

Wie dieser seit langem vielleicht bewegendste Spielfilm von Wim Wenders entstanden ist, das ist fast schon eine Geschichte für sich.

Wenders erhielt eine Einladung nach Tokio mit der Anfrage, ob er sich vorstellen könne, mehrere kurze Dokumentarfilme über ein gutes Dutzend neu entstandener, öffentlicher Toilettenhäuschen im Stadtviertel Shibuya zu drehen – keine gewöhnlichen Toiletten, sondern jede für sich ein kleines architektonisches Meisterwerk, entworfen von renommierten Architekten. Blitzsauber mit heizbaren Sitzen, eingebautem Bidet und einstellbarer Wassertemperatur haben öffentliche WCs in Japan einen ganz anderen Stellenwert als in Europa. Sie spiegeln, so wie Ordnung und Sauberkeit in Japan im Allgemeinen, die ausgeprägte soziale Verantwortung der Bürger gegenüber der Gesellschaft wider.

Wim Wenders, Regisseur
„Die kleinen Toilettentempel gefielen mir ungemein, aber gleich vom ersten Eindruck her nicht als Mittelpunkte kurzer Dokumentarfilme. Ich hatte vielmehr große Lust, sie in einen fiktionalen Kontext zu setzen. Ich finde, ‚Orte‘ sind in einer Geschichte, in Spielfilmen, immer besser aufgehoben als in dokumentarischen Formaten. DER HIMMEL ÜBER BERLIN fing ja auch mit der Lust an, diese Stadt mit all ihren Facetten zu zeigen. Aber wenn ich damals einen Dokumentarfilm über Berlin gemacht hätte, wären die Orte des Films nicht so ‚erhalten‘ geblieben, wie es durch die Erzählung der Engelsgeschichte geschehen ist.“

So entstand die Idee zu einem Spielfilm. Gemeinsam mit Drehbuchautor Takuma Takasaki (gleichzeitig auch Produzent des Films) entwickelte Wenders das Porträt eines japanischen Toilettenreinigers in einer der größten Metropolen der Welt. Dank perfekter Vorbereitung war der Film in gut 2 Wochen abgedreht.

Wim Wenders ist seit den 70iger Jahren zweifellos einer der bedeutendsten deutschen Filmemacher, weltweit bekannt. Allein 10 Mal war er in den Wettbewerb von Cannes eingeladen, 1984 bekam er dort die Goldene Palme für das Roadmovie PARIS TEXAS. Den Preis für die beste Regie gewann er 1987 für DER HIMMEL ÜBER BERLIN. Sein Film IN WEITER FERNE SO NAH erhielt 1993 den großen Preis der Jury. Dieses Jahr war Wim Wenders sogar mit zwei Filmen auf dem Festival vertreten. Neben PERFECT DAYS im Wettbewerb stellte er seinen neuen, in 3D gedrehten Dokumentarfilm ANSELM – IM RAUSCH DER ZEIT über den Künstler Anselm Kiefer als Special Screening vor, ein starkes Porträt des Malers und Bildhauers.

PERFECT DAYS galt schon in Cannes als einer der Favoriten, keine Überraschung also, als Hauptdarsteller Koji Yakusho alias Hirayama als bester Schauspieler ausgezeichnet wurde. In seinem intensiven Spiel und seiner schweigsamen Präsens ist er großartig. Er schafft es, uns mitzunehmen in das einfache, zurückgezogene Leben Hirayamas und strahlt eine Gelassenheit aus, die sich auf den Zuschauer überträgt.

Im Protagonisten Hirayama spiegelt sich auch das Alter Ego des Regisseurs. Waren Wenders frühere Helden, wie Travis (Harry Dean Santon) aus PARIS TEXAS rastlos Getriebene und selbst Engel wie Damiel (Bruno Ganz) aus DER HIMMEL ÜBER BERLIN nicht vor einem „Fall“ gefeit, so scheint dieser Held angekommen zu sein.
Unterwegs in seinem Transporter hört er analog Musik auf Audio Cassetten, US- amerikanische Rockmusik von LOU REED (Perfekt Days) oder PATTI SMITH, VAN MORRISON, den STONES oder den KINKS. Wenders musikalische Vorlieben sind unverkennbar.

Hirayama führt ein geregeltes Leben, gründlich und mit Sorgfalt geht er seiner Arbeit als Toilettenputzer nach. Die aufmerksame, bisweilen fast dokumentarische Kamera von Franz Lustig begleitet den wortkargen Helden, folgt ihm durch den Tag. Mittags während seiner Pause setzt er sich in den Park, verzehrt ein Sandwich und schaut auf das Lichtspiel der Sonne in den Blättern. Bisweilen nimmt er seine analoge Kamera und fotografiert seinen Lieblingsbaum. Wir sehen ihn vorsichtig einen kleinen Setzling ausgraben, den er mit nach Hause nehmen und einpflanzen wird – ein weiterer Kandidat für den morgendlichen Sprühregen. Nach getaner Arbeit geht er in ein öffentliches Bad, danach in einen Imbiss, abends vor dem Einschlafen liest er Faulkner.

Wim Wenders, Regisseur
„Hirayamas Alltag dient unserer Erzählung als Rückgrat. Das Schöne an diesem monotonen Rhythmus des ‚ewig Gleichen‘ ist, dass man plötzlich beginnt, auf all die kleinen Dinge zu achten, die eben nicht gleichbleiben, sondern sich jedes Mal verändern. Wenn man wie Hirayama tatsächlich lernt, vollkommen im HIER UND JETZT zu leben, gibt es keine Routine mehr. An ihre Stelle tritt die kontinuierliche Aufeinanderfolge einmaliger Ereignisse, einmaliger Begegnungen und einmaliger Momente. Hirayama nimmt uns mit in dieses Reich zufriedener Gegenwart“.

Es gibt Begegnungen, die vorsichtig Hirayamas Vergangenheit andeuten. Seine Nichte Niko (Arisa Nakano) taucht auf, sie ist von zu Hause ausgerissen, um ihren Onkel zu besuchen – Seelenverwandte die Beiden. Als die Schwester Hirayamas in einem Luxusauto erscheint, um ihre Tochter zurückzuholen, wird deutlich, dass es innerhalb der Familie Zerwürfnisse gab, die vielleicht zu seinem einfachen Leben geführt haben. Doch mehr gibt Wenders nicht preis, die Geschichte bleibt offen.

PERFECT DAYS zeigt Wim Wenders Verbundenheit und Liebe zu Japan und der japanischen Kultur. Schon in den 80iger Jahren reiste er in das Land der aufgehenden Sonne. 1985 setzte er in seinem filmischen Tagebuch TOKYO GA dem bekannten japanischen Regisseur Ozu Yasujirō (1903 -1963) ein Denkmal und begab sich auf die Spuren des Meisters.

Yasujirō verwendete in Innenräumen immer eine niedrige Position der Kamera, damit das Publikum das Gefühl hatte, in Augenhöhe mit den Protagonisten des Films zu sein. Wenn wir in PERFECT DAYS Hirayama in seiner kleinen Wohnung beobachten, beim Anschauen von Fotos, beim abendlichen Lesen oder beim Einschlafen wird deutlich, dass Wenders diese Kameraperspektive übernimmt und damit eindringliche und intime Momente schafft. Den Film hat er dem Regiemeister Ozu Yasujirō gewidmet.

Wim Wenders
„Ich bin vor allem beeindruckt von dem Gefühl, das alle seine Filme durchdringt: dass jedes Ding und jeder Mensch einmalig ist, dass jeder Moment nur einmal geschieht und dass die alltäglichen Geschichten die einzigen Geschichten von Dauer sind.“

Die Stadt Tokio spielt die zweite Hauptrolle in dem Film. Die Kamera zelebriert die Größe und Eigenheit der japanischen Metropole. Lustig zeigt in beeindruckenden Bildern die Besonderheiten dieser Stadt, wie den Skytree, das moderne Wahrzeichen der Stadt, die unzähligen Getränkeautomaten, die vielen Restaurants und Bars neben ultramodernen Hochbauten und das futuristische Geflecht der sich überkreuzenden Schnellstraßen.

Wim Wenders
„Ich liebe Tokio, seit ich mich dort das erste Mal tagelang verlaufen habe. Das war bereits in den späten Siebzigern. Ich kam aus dem Staunen nicht mehr heraus, wie ich stundenlang in dieser gigantischen Stadt herumgeirrt bin, ohne zu wissen, wo ich mich jeweils befand. Abends bin ich dann immer in die nächstbeste U-Bahn und hab zu meinem Hotel zurückgefunden. Jeden Tag war ich in einer anderen Gegend. Ich war verblüfft, wie chaotisch die Stadt aufgebaut zu sein schien: Viertel mit uralten Holzhäusern inmitten von Wolkenkratzern und stark befahrenden Stadtautobahnen, Ich war fasziniert von dem friedlichen Miteinander von Zukunft und Vergangenheit, das sich vor mir auftat. Damals kannte ich nur die USA als Ort, an dem man der Zukunft begegnen kann. Hier in Japan bot sich mir eine andere Version, die mir überaus gefiel.“

2023 war ein sehr erfolgreiches Jahr für den inzwischen 78-jährigen Wenders. Eine besondere Ehrung: Japan, das Land, mit dem er sich seit vielen Jahren verbunden fühlt, schickt seinen Film in das Rennen um den Auslands-Oscar 2024. Es ist das erste Mal nach über 70 Jahren, das Japan einen Künstler entsendet, der nicht selbst aus dem Land stammt.

PERFECT DAYS – ein Film, der berührt, ein Werk das uns das Staunen lehrt über die Schönheit des Lebens und der scheinbar einfachen Dinge, jenseits von Hektik.
Am 21. Dezember startet Wim Wenders Film in Deutschland – ein cineastisches Weihnachtsgeschenk!

Filmtitel: Perfect Days
Regie: Wim Wenders
Drehbuch: Wim Wenders, Takuma Takasaki
Produktionsfirmen: MASTER MIND Ltd., Spoon Inc., Wenders Images
Filmstart: 21.12.2023

copyright Master Mind LTD
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