Berlinale Forum: W UKRAINE

Berlinale Forum: W UKRAINE

Wie leben Menschen in einem Land, das seit einem Jahr dem russischen Angriffskrieg ausgesetzt ist? Gibt es überhaupt noch so etwas wie ein alltägliches Leben oder befindet sich das ganze Land – Mütter, Väter, Kinder, Jung und Alt – im permanenten Ausnahmezustand? Wie sieht der Krieg in der Ukraine jenseits der Nachrichtenbilder aus?

Das wollten die polnischen Filmemacher Piotr Pawlus und Tomasz Wolski wissen und begaben sich auf eine erschütternde Reise durch die Ukraine. Viele Ukrainer sind geflohen, ca 8 Millionen Menschen haben das Land verlassen. Doch wie sieht das Leben der Menschen aus, die noch geblieben sind?
Der Film beginnt im Westen der Ukraine. Zwischen den Spuren des Krieges, Ausflug zu den zerstörten Panzern der Russen. Man posiert vor den Kriegsfahrzeugen, lässt sich fotografieren, lächelt in die Kamera – alles schon weit weg im Sommer 2022?
Doch dann sieht man die Zerstörungen, zerbombte Gebäude, in den Häusern klaffen Löcher, fehlende Fassaden. Die Kamera blickt in zerstörte Wohnungen, in denen sich noch Relikte des einstigen normalen Lebens spiegeln: ein Bücherregal, ein Bügelbrett, ein Küchentisch, Geschirr.

Dann wieder die scheinbar vorsichtige Normalität des Alltags, Menschen auf der Straße, Einkaufen an einem warmen Sommertag.
Die beiden Filmemacher folgen den Spuren des Krieges, von der Westukraine bis an die Ostfront des Landes. Die Filmreise geht durch Dörfer, kleinere Städte bis zur Hauptstadt Kiew und dann noch weiter nach Charkiw. Je weiter die Regisseure nach Osten kommen und dokumentieren, was sie dort sehen, je näher rückt der Krieg. Bombenalarm in der Hauptstadt Kiew, die Menschen sind in die U-Bahn geflüchtet. Hier tut sich ein Parallelkosmos auf, einige haben ein paar Habseligkeiten gerettet, Nischen im Bahnhof eingenommen, hier campieren sie jetzt, hier isst man, schläft man, steht an für Lebensmittelspenden.

In zum Teil apokalyptischen Bildern zeigen die Filmemacher, wie das Leben in den zerbombten Städten und niedergebrannten Dörfern aussieht, wie die Menschen versuchen, sich mit dem Wenigen, das ihnen geblieben ist, zu arrangieren. Der Film ist ein dokumentarischer Bilderreigen, die Filmemacher verzichten auf Kommentartext, nur die Stimmen und Dialoge der Menschen, die gefilmt werden sind zu hören. Das ist auch die Stärke der Doku, sie setzt auf die unmittelbare Wirkung der Bilder. Es gibt keine unmittelbaren Gefechtsszenen. Am nächsten rückt der Krieg in einer Szene im Wald, wo ukrainische Soldat*innen von den Filmemachern beobachtet werden, es wird geschossen, im Hintergrund donnern Kanonen.

Neben einer zerstörten Brücke versuchen Menschen in eisiger Kälte mit Booten von einem Ende des Ufers zum anderen zu gelangen. Es ist immer wieder beeindruckend, die Tapferkeit der Bevölkerung zu sehen, selbst in den schwierigsten Situationen scheinen sie zusammen zu halten und machen weiter.

Piotr Pawlus und Tomasz Wolski blicken in ihrem 83-minütigen Dokumentarfilm unter die Oberfläche der bekannten Kriegsbilder aus den Medien. Ihr Anliegen ist es, die Zerstörungen, die Traumata des Krieges auszustellen. Was ist geblieben vom früheren Zuhause, der Heimat? Der Film macht das Unbegreifliche deutlich: die Ukraine, noch vor einem Jahr in weiten Teilen ein intaktes, fruchtbares Land, ist zerstört und verwüstet. Ein eindringlicher und wichtiger Film, der das Verdrängen nicht erlaubt.

W UKRAINE
Regie: Piotr Pawlus, Tomasz Wolski
Polen, Deutschland 2023
Dokumentarische Form

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Weitere Beiträge

Filmkritik

Filmkritik
EIN FEST FÜRS LEBEN

veröffentlicht am: 19.10.2023

Eine deutsche Komödie die funkt und funktioniert, das gibt es nicht so oft im Kino zu sehen, das ist erfreulich. Normalerweise sitzen Journalist*innen ja eher lässig und verhalten in den Pressevorführungen, überzogene Gefühlsausbrüche sind selten, gelten als unprofessionell. Doch in EIN FEST FÜRS LEBEN habe ich mich mehrere Male bei ausgiebigen Lachsalven ertappt; die Situationskomik sitzt, die Dialoge sind witzig und die Schauspieler sind hervorragend gecastet.

Mehr lesen »
Filmkritik

DADDIO – EINE NACHT IN NEW YORK Filmkritik

veröffentlicht am: 27.06.2024

Ein gelungenes Kammerspiel – das ist gekonnter Minimalismus. Eigentlich wollte Regisseurin Christy Hall ihr Werk DADDIO auf die Theaterbühne bringen, doch je länger sie an dem Stück arbeitete, desto intensiver wurde der Wunsch, die Geschichte als Film zu realisieren. Eine gute Entscheidung: DADDIO – EINE NACHT IN NEW YORK ist ein stimmiger Film geworden.

Mehr lesen »
Filmkritik

Die 75. Internationalen Filmfestspiele Berlin – ein Resümee

veröffentlicht am: 25.02.2025

Die 75. Berlinale – ein Dreivierteljahrhundert gibt es dieses Festival nun schon. Es hatte seine Höhen und Tiefen, wurde nach einem Eklat 1970 abgebrochen, und doch ging es immer weiter. Die Berlinale entwickelte sich, passte sich den Zeitströmungen an, hatte gute und eher mittelmäßige Jahre. Sie reifte zu einem politischen Publikumsfestival heran und ist heute immer noch das größte Filmfest Deutschlands sowie eines der wichtigsten cineastischen Events in Europa und darüber hinaus.

Mehr lesen »