Die 73. Internationalen Filmfestspiele Berlin - ein Resümee

Die 73. Internationalen Filmfestspiele Berlin - ein Resümee

Die Zahlen sind beeindruckend: Insgesamt 287 Filme hat das Festival gezeigt, der Ticketverkauf mit 320.000 kann sich sehen lassen. Rund 20.000 Akkreditierte, 2.800 Medien Vertreter*innen aus 132 Ländern haben das Festival besucht – fast wie vor der Pandemie. Allein das war schon ein Grund zur Freude. Kino ohne Maske, der Austausch mit den Kolleg*innen – die knisternde Atmosphäre, das Miteinander und Fluidum, das ein Festival wie die Berlinale braucht – es war wieder zu spüren. Insgesamt 120 Minuten Standing Ovations verkündete die Berlinale, fast alle Filmvorführungen waren schnell ausverkauft.

Wichtig und deutlich war auch die politische Präsenz der Berlinale: die Solidarität mit der Ukraine und mit den Befreiungskämpfer*innen im Iran, die Erinnerung an die Opfer von Krieg und Unterdrückung weltweit. Viele Filme warfen einen Blick in die politischen Krisengebiete, Solidaritätsbekundungen vertieften den politischen Appell.

Auch die Stars, die Schönen und Wichtigen der Filmszene, kamen nach Berlin wie Jurypräsidentin Kristen Stewart, die Schauspielerinnen Geraldine Chaplin, Cate Blanchet, Anne Hathaway, Helen Mirren, die Sängerin und Friedensaktivistin Joan Baez, Regisseur und Schauspieler Sean Penn, die Schauspieler John Malkovich, Peter Dinklage, Willem Dafoe und viele mehr. Ein Höhepunkt: Steven Spielberg, der große Filmmagier des Kinos, einer der weltweit bekanntesten und erfolgreichsten Regisseure; freundlich, charismatisch, uneitel, zugewandt auf der Pressekonferenz, dem roten Teppich und bei der Verleihung des goldenen Bären für sein Lebenswerk. Publikum, Presse und Veranstalter waren begeistert.

Im Zentrum: der Wettbewerb. Es gibt jedes Jahr eine Dynamik, die mich inzwischen schmunzeln lässt: zu Beginn gespannte, nervöse Erwartung – zur Halbzeit leichte Erschöpfung und krittelnde Übersättigung, gepaart mit nicht mehr ganz so genial geratenen Filmkommentaren, (ich nehme mich da nicht aus) – gegen Ende das große Rätseln, Spekulieren und Diskutieren um die möglichen Gewinnerfilme. Dieses Jahr überraschte die Jury mit höchst eigenwilligen Entscheidungen.
Zunächst der goldene Bär der 73. Berlinale, er ging an den einzigen Dokumentarfilm im Wettbewerb SUR L‘ ADAMENT des französischen Regisseur Nicolas Philibert. Als die Jury-Präsidentin Kristen Steward den höchsten Preis des Festivals für seinen Film verkündete, reagierte der Altmeister spontan: „Spinnt ihr?“ Eine Doku über die Pariser Tagesklinik Adamant, beheimatet auf einem Boot auf der Seine vor Paris. Philibert stellt Menschen mit seelischen und psychischen Nöten vor, die hier Hilfe und Ansprache finden: sie machen Musik, sie malen, sprechen über Literatur, erproben Möglichkeiten für einen vielleicht veränderten Lebensentwurf. Philibert bleibt in seinem 109 Minuten langen Film auf dem Boot. Leise, unvoreingenommene Beobachtungen ohne jeglichen Kommentar. Der Film war umstritten, visuell wenig herausragend, erzählerisch eine Innenschau. Die Jury lobte die Botschaft des Films: Menschlichkeit und Toleranz für einen offeneren Umgang mit den „Anderen“, die nicht nach den Normen der Gesellschaft funktionieren. Ich mochte den Film, hätte ihn jedoch nie als Goldenen Bären vermutet.

Der zweitwichtigste Preis, der Silberne Bär / Großer Preis der Jury, hat meine uneingeschränkte Zustimmung: ROTER HIMMEL von Christian Petzold. Petzold war zum 6. Mal im Wettbewerb auf der Berlinale, sein Film einer der Favoriten. Die Sommergeschichte um eine Gruppe junger Menschen in einem Ferienhaus an der Ostsee, unter ihnen ein Schriftsteller in der künstlerischen Krise, ist feinsinnig geschrieben, großartig inszeniert und gespielt. Die Welt brennt – innen und außen – die Flammenwalze eines Waldbrands rückt immer näher, Petzolds Verweis auf die Klimakrise.

Unverständlich, dass ROTER HIMMEL nicht in die Vorauswahl von 31 Filmen für den Deutschen Filmpreis aufgenommen wurde. Die Filmakademie rechtfertigt sich mit der Normalität unterschiedlicher Einschätzungen. Wieder einmal zeigt sich, wie seltsam diese Entscheidungen manchmal ausfallen. Nichtmitglieder und Kritiker der Filmakadmie wie Christian Petzold und Filme, die ästhetisch andere Wege gehen, werden bisweilen schon bei der Vorauswahl ausgegrenzt. Die verantwortlichen Jurys für die Vornominierungen sind kleine, von den Mitgliedern der Filmakadmie gewählte Kommissionen. Man kennt sich untereinander in der Filmgemeinde. Es bilden sich Allianzen, es wird polarisiert, und das wirkt sich bisweilen auf die Auswahl der Filme aus. Wichtig wäre, schon oft angemahnt, eine unabhängige Jury, die sich nicht nur aus den Mitgliedern der „Großfamilie Filmakademie“ zusammensetzt, eine Reform wäre gut.

Apropos Großfamilie und Familiengeschichten – ein Thema, das sich dieses Jahr im Wettbewerb wie ein roter Faden durch viele Filme zog, sehr unterschiedlich erzählt und realisiert. Der Jurypreis, (Nachfolger des abgesetzten Alfred Bauer Preises) ging an MAL VIVER des portugiesischen Regisseurs Joao Canijo. Ein eher düsteres Kammerspiel um drei Generationen von Frauen in einem Hotel. Lange, ermüdende Dialoge, die Kamera meist im Dunkeln verharrend, der Film hat mich nicht überzeugt. Ich hätte TOTEM einen Preis gegönnt, dem Wettbewerbsbeitrag der mexikanischen Regisseurin Lila Aviles. Sie erzählt in bewegten Bildern, ganz nah an den Protagonisten von einem Fest. Familie und Freunde kommen zusammen, um den Geburtstag von Tona, einem jungen Maler und Vater einer kleinen Tochter zu feiern. Es ist zugleich ein Abschiedsfest, denn Tona ist unheilbar krank. In der Mischung aus Melancholie und Lebensfreude, Trauer und Liebe war dieser Film, (der wie viele Werke in der Corona Zeit produziert wurde und auf wenige Spielplätze konzentriert war), ein Leuchtfeuer.

Es gab noch weitere Filme, die das Thema Familie umkreisen. Der Altmeister des französischen Kinos Philippe Garrel wurde für seinen Film LE GRAND CHARIOT mit dem Regiepreis ausgezeichnet. Garrel stellt uns eine Familie von Puppenspieler*innnen vor, schildert ihre Existenzängste und den Niedergang des Familienunternehmens. Garrels Film ist auch eine nachdenkliche Reflexion über eine Jahrtausende alte Theaterkunst, die in der modernen Medienwelt immer mehr an Bedeutung verliert.

Viele der Wettbewerbsfilme verhandeln gesellschaftliche Konflikte im Privaten, so auch der spanische Film 20.000 SPECIES OF BEES. Im Mittelpunkt der Handlung steht ein Kind auf der Suche nach seiner geschlechtlichen Identität – ein Junge, der nicht mehr mit seinem männlichen Namen Aitor angeredet werden will, sondern sich selbst Coco nennt.
Die neunjährige Sofia Otero spielt dieses Kind, authentisch und sehr überzeugend. Die Jury verlieh ihr dafür den Silbernen Bären für die Beste Darstellung. Das gab es in der Geschichte der Berlinale noch nie, den Preis für die beste Hauptrolle an ein Kind. Sofia Otero hielt sich tapfer und lächelnd vor dem Blitzlichtgewitter der Kameras, wirkte aber verständlicherweise auch überfordert. Eine fragwürdige Entscheidung, wäre da nicht ein Preis für die spanische Regisseurin dieses Films Estibaliz Urresola Solaguren angemessener gewesen? Zumal dieser Film meisterhaft inszeniert ist und darüber hinaus auf überzeugende Weise das Thema Transsexualität verhandelt.

Und es gab noch einen Preis für einen Film, der sich mit der Thematik Transgender befasst. Die Jury zeichnete die transsexuelle Schauspielerin Thea Ehre für ihre Darstellung in Christoph Hochhäuslers Film BIS ANS ENDE DER WELT aus. Ehre bekam den Preis für die beste Nebenrolle (interessanterweise spielt sie in diesem Film die Hauptrolle). Die Auszeichnung ist verdient, Ehres Performance als transsexuelle Undercoveragentin in dem zwielichtigen Thriller mit Anklängen an den Film Noir ist aufregend gut. Thea Ehre widmete ihren Preis der Trans-Community.

Das asiatische Kino, immer wieder ein Höhepunkt im Wettbewerb, wurde dieses Jahr von der Jury nicht honoriert. Obwohl es einige interessante und vielversprechende Filme zu bieten hatte. Einer davon ist der koreanische Film PAST LIVES. Er erzählt von drei Menschen zischen Korea und New York – von Migration, Entfremdung, von alter und von neuer Liebe. Die Kindheitsfreunde Nora und Hae Sung müssen sich als 12-Jährige trennen, als Noras Familie in die USA emigriert. 20 Jahre später treffen sich Nora und Hae Sung in New York wieder. Nora ist inzwischen mit einem Amerikaner verheiratet. In ihrem erstaunlich ausgereiften Debüt gelingt es Celine Song die Geschichte einer Liebe aus Kindheitstagen und einer neuen Liebe im Erwachsenenalter melancholisch zu verknüpfen. Gleichzeitig zeichnet sie die Kontraste zwischen den Welten in Korea und in den USA nach.

Auch dieses Jahr wurde neben Lob auch Kritik geäußert. Der Vorwurf: der Berlinale fehle es an großen Namen und den dazugehörigen Stars. Der künstlerische Leiter Carlo Chatrian hätte den Wettbewerb in den letzten Jahren zu einer Arthouse Veranstaltung umgebaut. Der Wettbewerb spiegle nicht mehr das Weltkino in seiner ganzen Breite.

Ich bin der Meinung, diese Kritik ist überspitzt. Sicher ist die altbekannte Konkurrenz um die Großen des Weltkinos zwischen Cannes, Venedig und Berlin auch dieses Jahr ein Problem. Das liegt zum einem an der Terminierung der Festivals. Wenn die Berlinale im Februar beginnt, sind viele der interessanten, großen Filme noch in der Fertigstellung und die Regisseure kommen dann gerne im Mai nach Cannes. Und der Vorteil von Venedig liegt im günstigen Termin im Spätsommer, Hollywood nützt das Festival am Lido gern als Startrampe für die Oscar verdächtigen Filme. Das sind Fakten und die Konkurrenz der drei großen A-Festivals wird weiter bestehen. Doch mich hat die Auswahl der Filme dieses Jahr im Wettbewerb angenehm überrascht und bis auf einige Ausnahmen überzeugt. Übrigens, auch in Cannes und Venedig gibt es immer wieder Ausreißer im Programm.

Das große Filmschauen nach zwei Jahren Pandemie – selten musste eine Berlinale so vielen Erwartungen genügen, einen Spagat bewältigen zwischen politischem Anspruch, Weltkino, spannendem Mainstream und herausragendem Neuen. Für mich war es wieder ein Erlebnis: vielfältiges, politisches und weltoffenes Kino. Ich habe in allen Sektionen Filme gesehen, die mich berührt, inspiriert und erstaunt haben, kraftvolle visuelle Werke, denen man die zwei Jahre Pandemie mit ihren schwierigen Produktionsbedingungen nicht ansieht. Jetzt beginnt die Vorbereitung für das nächste Jahr – ich freue mich schon auf die Berlinale 2024.

Eine Antwort

  1. Liebe Regina,
    ich habe fast alle Artikel gelesen und bin gerade auf das Resümee gestoßen. Gefällt mir sehr gut! Weiter so…

    Liebe Grüße
    Brigit

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