Und wieder gewinnt ein Dokumentarfilm den wichtigsten Preis der Berlinale, den goldenen Bären. Wie kam es zu dieser Entscheidung, gab es keine adäquaten Fictionfilme, die diesen Preis verdient hätten? War die Auswahl der 20 Filme, die im Wettbewerb um den goldenen Bären konkurrierten, so mittelmäßig?
Es war ein durchmischtes, aber auch durchaus interessantes Jahr im Wettbewerb. Neben einigen bekannten Namen der europäischen A-Festivals wie Oliver Assayes, Hong Sang-soo, Abderrahmane Sissako und Andreas Dresen gab es viele Regisseure, die ihren zweiten oder dritten Film präsentierten. Doch das große Highlight war auch in diesem Jahr nicht auszumachen.
Die Grenzen der Filmpositionierungen zwischen dem Wettbewerb, der Reihe Encounters und der Sektion Panorama waren nicht immer nachvollziehbar. Die „Encounters“ sind eine Erfindung von Carlo Chatrian, er wollte eine Plattform schaffen „für ästhetisch und strukturell wagemutige Arbeiten von unabhängigen Filmschaffenden“. Ob die Reihe unter der neuen Festivalchefin Tricia Tuttle bestehen bleibt, ist fraglich.
Der goldene Bär der 74. Internationalen Filmfestspiele Berlin ging also zum zweiten Mal in Folge (nach dem Hauptpreis für Nicolas Philiberts Dokumentarfilm AUF DER ADAMENT im letzten Jahr) an eine Dokumentation: DAHOMEY, ein Film der französisch- senegalesischen Filmemacherin Mati Diop. Zweifellos ein wichtiger Film mit einem aktuellen Thema, das seit Jahren in der Diskussion steht: Raubkunst aus Afrika und ihre überfällige Rückgabe.
Mati Diop schildert den Weg von 26 geraubten Objekten aus dem ehemaligen Königreich Dahomey zurück in ihr Heimatland Benin. 2021 gab Frankreich die Kunstobjekte an das Land zurück. Insgesamt wurden vor rund 130 Jahren ca. 7000 Kunstwerke gestohlen, die meisten befinden sich bis heute in Frankreich.
Diop begleitet die Reise der Kunstwerke, zeigt die Verpackung in Frankreich, den Transport, die Ankunft am Flughafen in Benin, Begrüßungskomitees, die Reaktion der Menschen.
Im Film hat die geraubte Statue des Königs Gezo eine eigene Stimme im Off – dieser Regieeinfall Diops verleiht der Doku eine poetische Komponente. So sinniert Gezo über die Verlorenheit und über das Fremdsein: in Paris aber auch in Benin!
In einer von der Regisseurin inszenierten Diskussion im Film streiten überwiegend junge Menschen in Benin darüber, welche Rolle die Rückgabe der Raubkunst für die kulturelle Identität des Landes heute spielt, in den Gesprächen werden auch die aktuellen Probleme des jungen Benin, die Armut und der Bildungsnotstand deutlich.
67 Minuten ist der Film lang und damit dass kürzeste Werk, das jemals den goldenen Bären bekommen hat. Eine kluge Analyse über Raubkunst, ihre Folgen und die immense Aufgabe ihrer Rückführung. Aber ein goldener Bär, also der herausragendste Film des Wettbewerbs?
Der zweitwichtigste Preis, der silberne Bär großer Preis der Jury, wurde an den koreanischen Regisseur Hong Sang-soo für sein Werk A TRAVELERS`NEED verliehen. Sang-soo ist quasi Stammgast auf der Berlinale und hat mit seinen Filmen schon mehrere Preise gewonnen. Der große, stille Bildermacher und Beobachter des koreanischen Kinos hat mich auch mit seinem neuen Werk überzeugt.
Es ist seine dritte Zusammenarbeit mit Schauspielerin Isabelle Huppert. Mädchenhaft und doch nicht mehr jung, spielt sie eine Französin, die meistens allein durch Seoul streift. Die Vergangenheit dieser Figur bleibt verborgen, wir beobachten sie im Hier und Jetzt – wie sie im Park sitzt und Blockflöte spielt, wie sie auf einem Felsen liegt, durch das Wasser watet und wie sie in ihrer sehr eigenen Methode Koreanerinnen Französisch-Unterricht gibt.
Vieles an dieser Frau bleibt rätselhaft. Isabelle Huppert sagte auf der Pressekonferenz, der Film sei ein philosophisches Statement über das Leben: „…was es heißt am Leben zu sein, ein Mensch zu sein, allein zu sein und was es heißt gemeinsam mit anderen zu sein.“
Ein leiser und poetischer Film, der vom Leben, dem unaufhaltsamen Altern und von Einsamkeit erzählt, mit einer immer wieder faszinierenden Hauptdarstellerin.
Der silberne Bär ging an L`EMPIRE von Bruno Dumonts, einer der umstrittensten Filme des Festivals. Ein intergalaktisches Abenteuer, diesmal nicht angesiedelt in fernen Welten, sondern in einem nordfranzösischen Fischerdorf in der Normandie. Gut gegen Böse, Außerirdische schlüpfen in die Körper junger Menschen und kämpfen um die Herrschaft auf der Erde. Raumschiffe in Gestalt von Kathedralen geistern über die Leinwand, ein Kleinkind ist die Verkörperung des Bösen. Was eine Parodie auf Science-Fiction-Filme wie STAR WARS werden sollte, entpuppt sich als unsinnig, sexistisch, dramaturgisch schwach und visuell aufgeblasen.
Irritierend und gleichzeitig erstaunlich ist PEPE. Regisseur Nelson Carlos de los Santos Arias aus der dominikanischen Republik bekam den Preis für die beste Regie.
Der Film erzählt aus der Perspektive eines Nilpferds von seiner Verschleppung aus seiner Heimat Ostafrika nach Kolumbien, organisiert vom Drogenbaron Pablo Escobar für seinen Privatzoo, soweit die verbürgten Fakten. Es folgt eine wilde Kollage aus TV-und Archivausschnitten, Cartoontakes und Neudreh in Afrika und in Lateinamerika. Pepe, der Stellvertreter all derer, die Opfer der Kolonialisierung und ihrer Folgen waren und sind, erzählt uns in Afrikaans, Spanisch und Mbukushu seine Geschichte. Formal ziemlich gewagt, ein wenig durchgeknallt, so dachte ich anfangs, dann beschäftigte mich dieser Hybridfilm noch viele Stunden. Santos Arias zeigt mit seinem Werk ungewohnte aber überraschende Perspektiven des Kinos auf.
Der Preis für das beste Drehbuch scheint mir passend für den Film STERBEN von Matthias Glasner. Vor 12 Jahren war er mit seinem Werk GNADE im Wettbewerb.
STERBEN ist ein Ensemblefilm mit deutscher Schauspielprominenz: Corinna Harfouch, Lars Eidinger und Lilith Stangenberg. Es ist Glasners bisher persönlichster Film. Er verarbeitet in dem Werk die schwierige Beziehung zu seiner Familie, den Tod seiner Eltern und zeichnet in 5 Kapiteln ein beängstigendes, knallhartes, aber in Teilen auch humorvolles Bild einer dysfunktionalen Familie. Kompromisslos und in gewohnter Intensität lotet Glasner (wie schon in GNADE) die Untiefen des Lebens aus.
Eine rätselhafte Juryentscheidung war der genderneutrale Darstellerpreis. Er ging an den rumänisch- amerikanischen Schauspieler und Marvel-Star Sebastian Stan. In dem Film A DIFFERRENT MAN von Aaron Schimberg ist sein Gesicht lange Zeit unter einer dicken Maske verborgen. Zudem gab es unter den weiblichen Schauspielerinnen vielversprechende Anwärterinnen: Liv Lisa Freis als Hilde Kopi in Andreas Dresens Film IN LIEBE, HILDE oder Anja Plaschg im österreichischen Historiendrama DES TEUFELS BAD als depressive, junge Frau der Unterschicht im 18.Jahrhhundert.
Neben den Ausgezeichneten gab es Werke, die auffielen, auf Preise hoffen ließen und von der Wettbewerbs-Jury ignoriert wurden. So der iranische Film MY FAVORITE CAKE des Regie Duos Maryam Moghaddam und Behtash Sanaeeha, die schon 2021 mit ihrem mutigen Politdrama DIE BALLADE VON DER WIEISSEN KUH große Anerkennung ernteten.
Ihr neuer Film hätte einen der großen Preise verdient, meiner Meinung nach auch den Goldenen Bären. Eine Komödie über eine 70jährige Frau im Iran, die sich über alle politischen und moralischen Grenzen hinwegsetzt. Im Alter entdeckt sie noch einmal die Liebe und das Leben, lernt einem Mann kennen, den sie anspricht! Und dann in ihr Haus einlädt!
Ein Film der sich mutig über die Tabus und Verbote des autoritären Gottes- Staates Iran hinwegsetzt, angefangen bei dem fehlenden Kopftuch bis zu kritischen Äußerungen gegen das Mullah Regime und die Sittenpolizei.
Das Regieduo dürfte nicht nach Berlin kommen – sie erhielten keine Ausreisegenehmigung aus dem Iran. Vertreten wurden sie von den beiden Hauptdarstellern Lily Fahrradtour und Esmail Mehrabi. Immerhin bekam der Film, der nicht nur über Liebe im Alter, sondern auch über Mut, Zivilcourage und Widerstand erzählt, den Preis der ökumenischen Jury.
Ein weiteres Werk, das von der internationalen Jury nicht gewürdigt wurde, ist BLACK TEA des mauretanischen Regisseurs Abderrahmane Sissako. Es ist die transkulturelle Liebesgeschichte zwischen einer ivorischen Frau (Nina Melo‘) von der Elfenbeinküste und einem chinesischen Teehausbesitzer (Chang Han) – ein faszinierendes, fast futuristisches Filmgemälde über ein friedliches und tolerantes Miteinander der Menschen. (Mehr dazu in meinem Artikel „Focus Afrika“.)
Und auch Andreas Dresens Film IN LIEBE, HILDE, ein Drama aus der NS-Zeit über die Widerstandsgruppe „Rote Kapelle“ und die stille, zähe Kämpferin Hilde Kopi hätte einen Preis verdient. Einer der wenigen Filme aus dieser Zeit, die auf Hakenkreuze, große Aufmärsche und die gängigen NS Klischee-Kinobilder verzichten und dicht bei den Menschen das Drama von Verhaftung und Tod erzählen.
Eine Ära geht zu Ende – nach 5 Jahren war es die letzte Berlinale unter der Leitung des Duos Mariette Rissenbeek und Carlo Chatrian.
Wie diese Entscheidung zu Stande kam, ist nicht gerade rühmlich. Nachdem die Geschäftsführerin Mariette Rissenbeek im letzten Jahr ihren Ausstieg für 2024 angekündigt hatte, wurde Carlo Chatrian als künstlerischer Leiter ebenfalls geschasst. Trotz prominenter Proteste in der internationalen Filmszene, allen voran Martin Scorsese.
Dieser Eklat war im Programm der 74.Berlinale nicht zu spüren – ein vielseitiges Wettbewerbsprogramm, unterschiedliche Genre, vom gesellschaftskritischen Essay, über filmische Ausflüge in exotische Regionen, Science-Fiction, Thriller, bis zum Historienfilm. Bekannte Namen und interessante Newcomer, die in der Filmszene bereits einen Ruf erworben haben.
Auch bei der 74. Berlinale stand die Filmkunst deutlich im Vordergrund, ohne das die Stars auf dem roten Teppich gefehlt hätten. Ein Höhepunkt: Martin Scorcese und die Verleihung des goldenen Ehrenbären an den großen Filmmeister, aber auch Stars wie Matt Damon, Kristen Stewart, Adam Sandler, Sharon Stone und Isabelle Huppert kamen nach Berlin.
Der Ruf der Berlinale als größtes Publikumsfestival hat sich wieder bestätigt, 270.000 Tickets wurden bis zum Festivalmittwoch verkauft, die Auslastung lag bei 90 Prozent, auch dieses Jahr strömten die Besucher wieder ins Kino, Zahlen wie vor der Pandemie. Die Begeisterung des Publikums für das Festival ist ungebrochen.
Grund für Zuversicht bei der neuen Leiterin der Berlinale Tricia Tuttlle, die 5 Jahre sehr erfolgreich das London Filmfestival geführt hat. Sie übernimmt im April.
Große Erwartungen stehen im Raum, u.a. eine breitere Filmauswahl im Wettbewerb, noch mehr Stars, Glanz und Glamour auf dem roten Teppich.
Auch Tuttle wird mit den strukturellen Problemen des Festivals zu kämpfen haben, denn der frühe Termin der Berlinale im Februar kurz vor der Verleihung der Oscars bleibt ein Problem. Die wichtigen US-Filme samt Prominenz bleiben kurz vor dem bedeutendsten Ereignis der amerikanischen, ja der globalen Filmbranche von der Berlinale fern, um dann lieber im Mai oder September nach Cannes oder nach Venedig zu reisen.
Dazu kommt der Sparzwang der Berlinale, Sponsoren ziehen sich zurück und auch das Problem des Standorts und der Spielstätten stehen im Raum. Mit dem Umzug des „Filmhaus Arsenal“ fehlt dem Potsdamer Platz ein wichtiger Berlinale-Player, zudem werden die Veranstaltungsorte des Festivals in der Stadt dezentraler.2025 ist auch das letzte Jahr für den Berinale- Palast am Potsdamer Platz. Große Herausforderungen.
Dennoch, das Geschäft geht weiter und ein Wechsel bringt auf jeden Fall neue, frische Impulse und Veränderungen. Es wird spannend mit der neuen Chefin Tricia Tuttle – ich blicke mit viel Vorfreude auf das 75. Berlinale Jubiläum.