Filmkritik LETZTER ABEND

Filmkritik LETZTER ABEND

Ein Debütfilm muss sitzen, das wissen Regiestudenten. Über das Sujet und die Machart macht man sich jahrelang Gedanken, schließlich kann der erste lange Kinofilm, falls gelungen, das Entree in die ersehnte Filmwelt bedeuten.
Wenn man als junger Filmemacher durch Corona gehandicapt ist, bedeutet das eine doppelte Herausforderung: wie kann ein überzeugendes Spielfilm-Debüt gelingen in einer Zeit von Personenbeschränkungen und einem Drehverbot in öffentlichen Räumen?

Genau in dieser Zeit hat der Regisseur Lukas Nathrath gemeinsam mit seinem Freund und Hauptdarsteller Sebastian Jakob Doppelbauer ein Skript entwickelt, das Corona trotzt: mit Dreharbeiten, die größtenteils in einem geschlossenen Raum stattfinden: ein Kammerspiel, ein Ensemblefilm. Finanziert mit niedrigem Budget durch lokale Spendengelder und aus Eigenmitteln der Klinkerfilm. Die Postproduktion erhielt dann Nachwuchsförderung der Media Talents Niedersachsen. Das war ein Wagnis und es war eine Herausforderung – es hat funktioniert.

Der Film handelt von einem jungen Paar, das kurz nach dem Corona Lockdown von Hannover nach Berlin ziehen will. Lisa hat als Neurologin ein verlockendes Jobangebot an der Charité und Clemens, als freiberuflicher Musiker, hofft in der Metropole auf bessere Startchancen. Am Abend vor dem Umzug laden die beiden ihre Freunde zu einem gemeinsamen Abschiedsessen ein in die schon fast leer geräumte Wohnung. LETZTER ABEND, ein in mehrfacher Hinsicht symbolischer Titel für diesen Film.
Vertraute, alte Freunde sagen kurzfristig ab oder kommen verspätet. Stattdessen tauchen nicht eingeladene Gäste auf, die Nachbarin von oben und eine Rucksacktouristin. Nach und nach gerät die Dinnerparty in Schieflage.

Zu seiner Inspiration, den Film zu machen sagt Lukas Nathrath:
Es fasziniert mich, Hoffnungen und Selbsttäuschungen darzustellen, die Menschen zum Überleben brauchen: Figuren, die versuchen, ihr Gesicht zu wahren, aber irgendwann die Fassung verlieren.
In den Filmen, die uns inspiriert haben, werden zwischenmenschliche Konflikte verhandelt, bis das zivilisierte Verhalten Risse bekommt und Alltagssituationen in teils bourgeoisen Milieus eskalieren: ALLE ANDEREN von Maren Ade, WILD TALES von Damián Szifron, WOMAN UNDER THE INFLUENCE von John Cassavetes, FRANCES HA von Noah Baumbach, HUSBANDS AND WIVES von Woody Allen und FESTEN von Thomas Vinterberg
.“

Es ist die Authentizität der handelnden Personen, die diesen Film auszeichnet.
Improvisation, ob im Leben, oder bei der Vorbereitung der Abschiedsparty. Am Anfang sieht man Clemens mit seiner Gitarre. Er komponiert ein Liebeslied für Lisa, obwohl er eigentlich das Bücherregal ausräumen soll, denn der Umzug steht kurz bevor und die Gäste kommen. Die Lasagne müsste vorbereitet werden, doch eine Freundin erzählt Lisa von ihren Lebenskrisen. Nach dem Einkauf fällt Clemens im Hausflur eine Tüte zu Boden, eine Rucksacktouristin hilft ihm, die Scherben aufzusammeln. Sie wurde bei einem Treffen versetzt und will ihr Handy in der Wohnung von Lisa und Clemens aufladen. Dann verbrennt die Lasagne, Essen wird bestellt, ein gestresster Bote nimmt nur Bargeld. Inzwischen kommen die Freunde und die, die sich selbst eingeladen haben, die Nachbarin und die Rucksacktouristin.

Es brodelt unter der Oberfläche, auch bei dem scheinbar glücklichen Paar, das bald nach Berlin ziehen will. Clemens, als Musiker begabt aber erfolglos, leidet unter depressiven Anfällen, die er allein im Badezimmer auslebt. Lisa ist die Erfolgreiche, die Verständnisvolle, sie trägt hauptsächlich zum gemeinsamen Einkommen bei. Doch unter ihrer Freundlichkeit lauert Enttäuschung und Aggressivität.

Als das Paar beginnt, unterschwellige Beziehungskonflikte über die neuen Gäste auszutragen, als aus Smalltalk Vorwürfe werden, Gesellschaftsspiele entgleisen und sich Konkurrenzkämpfe zuspitzen, steuert der Abend immer mehr auf einen emotionalen Crash zu: Lisas Halbbruder nennt Clemens einen „Psycho“, ein Ex-Kommilitone von Lisa macht sich schwer an Lisa heran – Ängste, Begierden, Sehnsüchte und Lebenslügen bei allen Gästen liegen offen zu Tage.

Auslöser, diesen Film zu drehen, war nach Monaten der Pandemie-Isolation der Drang, unsere Eindrücke und Erfahrungen tragikomisch zu reflektieren und uns gemeinsam filmisch auszudrücken. Diese Energie hat sich auf die Figuren übertragen, die alle nach Abenteuern und Ablenkung gieren. Es sind Charaktere, die materiell nicht leiden, aber Angst haben, im Zeitalter der Instagram-Gesellschaft nicht zu genügen. Obwohl sie unglücklich oder einsam sind, meinen sie, fröhlich, stark und erfolgreich wirken zu müssen, was viel tragikomisches Potential für zwischenmenschliche „awkwardness“ und Abgründe bietet. Es fasziniert mich, Hoffnungen und Selbsttäuschungen darzustellen, die Menschen zum Überleben brauchen: Figuren, die versuchen, ihr Gesicht zu wahren, aber irgendwann die Fassung verlieren
Lukas Nathrath, Regisseur

Nathrath gelingt es, das Lebensgefühl junger Erwachsener authentisch einzufangen. Es sind die Wunden der sogenannten „Millennium Generation“ auch „Generation Y“ genannt, die Geburtsjahrgänge zwischen 1980 und dem beginnenden Jahrtausend. Junge Menschen geprägt durch die Krisen der Gegenwart wie Corona und dem Krieg in der Ukraine, aber auch existenziellen Einbrüchen in ihrer Jugend, wie dem Terroranschlag in New York, der Finanz – und Eurokurse. Eine Generation, die erfahren hat, dass nichts sicher und endgültig ist, die vieles nur theoretisch hinterfragt. Es wird gefrotzelt und diskutiert, doch der Wertekanon, ob politisch, kulturell oder im Privaten ist unsicher, man versucht sich zwischen Beziehung, Beruf und Zukunftsängsten zurechtzufinden.

Lukas Nathrath ist 1990 in München geboren, er kennt sich aus in seiner Generation. Bis 2019 studierte er Filmregie an der Hamburg Media School, konnte schon während der Studienzeit Erfolge vorweisen. Mit seinem Kurzfilm MIT IM BUND wurde er 2018 ins Next Generation Programm von German Films beim Cannes Film Festival eingeladen. Sein Abschlussfilm KIPPA erhielt mehrere Auszeichnungen, darunter den Europäischen Civis Medienpreis und den Studio Hamburg Nachwuchspreis.

Im Sommer 2020 beginnen die Dreharbeiten zu LETZTER ABEND mit Akteuren vom Schauspielhaus Hannover. Die Drehzeit: 7 Tage!

,,Die Rollen haben Sebastian Doppelbauer und ich in enger Absprache mit dem Schauspiel-Ensemble entwickelt und parallel dazu das Drehbuch geschrieben. Beim Drehen ging es mir immer darum, die Spielfreude und Fantasie der Darstellerinnen und Darsteller zu ermutigen. Die Gruppendynamik der Figuren war dabei sehr spannend, und der Dreh wurde zu einer intensiven, erfüllenden Zeit.”
Lukas Nathrath, Regisseur

Als der Film in der First Look Sektion des Locarno Filmfestivals 2022 den Hauptpreis gewinnt, wird auch der Verleih Beta Cinema aufmerksam. LETZTER ABEND wird als einziger deutscher Beitrag im Hauptwettbewerb des Internationalen Filmfestivals Rotterdam eingeladen und gewinnt beim Max Ophüls Preis Filmfestival 2023 den Preis für die beste Regie.

LETZTER ABEND – eine schräge Komödie oder eher ein Drama? Für mich eine „Dramödie“, die es schafft, die Balance zu halten, der Film verfällt nicht ins Depressive, ist aber auch nicht komödiantisch überkandidelt – es passt das altmodische Wort „wahrhaftig“. Die Charaktere sind präzise ausgearbeitet, die Dialoge sitzen, auch dank eines beeindruckenden Schauspielerensembles. Drehbuch, Schnitt, Spiel und Kamera überzeugen in diesem Debüt. Ein Kammerspiel, das nie langweilig wird.

LETZTER ABEND
Regie: Lukas Nathrath
Produktionsland: Deutschland 2023
Verleih und Vertrieb: Filmwelt Verleihagentur GmbH

Copyright Filmwelt
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Meine Bewertung:

4/5

4/5

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