Die 75. Internationalen Filmfestspiele Berlin - ein Resümee

Die 75. Berlinale – ein Dreivierteljahrhundert gibt es dieses Festival nun schon. Es hatte seine Höhen und Tiefen, wurde nach einem Eklat 1970 abgebrochen, und doch ging es immer weiter. Die Berlinale entwickelte sich, passte sich den Zeitströmungen an, hatte gute und eher mittelmäßige Jahre. Sie reifte zu einem politischen Publikumsfestival heran und ist heute immer noch das größte Filmfest Deutschlands sowie eines der wichtigsten cineastischen Events in Europa und darüber hinaus.

Frische Akzente – Die Berlinale unter Tricia Tuttle

Dieses Jahr war das erste Jahr für Berlinale-Intendantin Tricia Tuttle. Sie hat es gut gemeistert – trotz einer eher kurzen Vorlaufzeit, trotz Sparmaßnahmen, die am Ende durch einen Bundeszuschuss von 1,9 Millionen Euro gemildert wurden. Wie waren sie also, die 75. Internationalen Filmfestspiele Berlin?

Tricia Tuttle kann auf ein gelungenes Festival zurückblicken. Sie hat es geschafft, der Berlinale wieder ein Profil zu verleihen – mit einem deutlich feministischen Blick auf Themen und Filme. 42 Prozent der Regisseur:innen im Wettbewerb waren Frauen – der bisher höchste Anteil von Filmemacherinnen seit Beginn der Berlinale.

Überraschend war auch die Auswahl der Wettbewerbsfilme:
Ein breites Spektrum an Genres, inklusive Horror- und Science-Fiction-Filmen sowie experimentellen Werken – unterschiedlichste Erzählweisen, globales Kino.

Goldener Bär für DRØMMER

Nicht immer waren die Filme herausragend, vieles blieb im guten Mittelmaß. Doch einige Werke werden in Erinnerung bleiben – wie zum Beispiel der Gewinner des Goldenen Bären, DRØMMER / DREAMS (Sex Love) des norwegischen Regisseurs Dag Johan Haugerud. Der Film bildet den Abschluss seiner Trilogie über Liebe, Sex und Zärtlichkeit.

Eine Coming-of-Age-Geschichte: Die 17-jährige Johanne (Ella Øverbye) ist zum ersten Mal in ihrem Leben verliebt – in ihre Lehrerin (Selome Emnetu). Für sie ein unbekanntes, alles erfüllendes Gefühl, das sie verwirrt und hilflos zurücklässt. Die Lehrerin ist freundlich und zugewandt, erwidert jedoch die Gefühle des Mädchens nicht.

Um sich über ihre Situation klar zu werden, schreibt sich Johanne ihre Gefühle, Träume und Sehnsüchte von der Seele. Sie zeigt das Manuskript zunächst ihrer Großmutter, die Schriftstellerin ist, und später auch ihrer Mutter. Nach anfänglicher Irritation und langen Gesprächen mit beiden Frauen entscheidet sich Johanne, den Text zu veröffentlichen – und hat damit einen kleinen, beachtlichen Erfolg als junge Autorin.

Es sind die klugen, intensiven Dialoge der Frauen aus drei Generationen sowie die Zärtlichkeit und Leichtfüßigkeit, die diesen Film auszeichnen. Ein verdienter Goldener Bär, der sensibel und klug das Gefühlschaos der ersten großen Liebe einfängt und über das Erzählen reflektiert.

Gelungene Abschlussgala

Im Gegensatz zum letzten Jahr verlief die Abschlussgala der Berlinale harmonisch – es gab keinen Eklat wie 2024, als einige Regisseure einseitige Solidarität mit Palästina bekundeten und Schlagwörter wie „Genozid“ und „Apartheid“ unwidersprochen im Raum standen.

Das ist auch der Festivalchefin Tricia Tuttle zu verdanken. Sie hatte alle Filmschaffenden gebeten, keine einseitigen politischen Parolen auf der Bühne zu skandieren. Bis auf ein paar Ausnahmen – etwa bei der Premiere des Panoramafilms QUEEERPANORAMA, als der chinesische Regisseur Jun Li Parolen wie „From the river to the sea…“ äußerte – hielten sich fast alle Beteiligten daran.
Die Berlinale ließ verlauten, man habe die Gäste darauf hingewiesen, „welche politischen Äußerungen besonders sensibel und welche möglicherweise strafbar sind.“

Es wird auch in Zukunft wichtig sein, auf einem Festival, bei dem Menschen aus der ganzen Welt mit unterschiedlichen sozialen und politischen Hintergründen zusammenkommen, mit Kritik sensibel umzugehen. Trotz Compliance-Regeln kann man nur weiterhin auf eine weltoffene Toleranz aller beteiligten Regisseur:innen und Künstler:innen hoffen.

Weitere Preise im Wettbewerb

Den zweitwichtigsten Preis der Berlinale, den Großen Preis der Jury, gewann erfreulicherweise O ÚLTIMO AZUL / THE BLUE TRAIL des brasilianischen Regisseurs Gabriel Mascaro. Sein Autorenfilm spielt in einer nahen Zukunft, in der alte Menschen ihre letzten Lebensjahre in abgeschlossenen Lagern verbringen müssen. Mascaro behandelt das Thema Altersdiskriminierung auf seine ganz eigene, überraschende Weise und schenkt uns ein hoffnungsvolles Ende. (Siehe auch „Dreimal Wettbewerb – Meine Favoriten“).

Und noch ein Preis für Lateinamerika: Der Silberne Bär der Jury ging an einen argentinischen Film. Regisseur und Drehbuchautor Iván Fund erzählt in beeindruckenden Schwarz-Weiß-Bildern von einem Mädchen, das telepathisch mit Tieren kommunizieren kann. Sie reist mit ihren Pflegeeltern durch das Land – man bietet therapeutische Sitzungen für Tiere an.
Über die Gabe des Mädchens (überzeugend gespielt von María Bestelli) sichert sich die kleine Familie den Lebensunterhalt. Ein Roadmovie, meditativ, mit spärlichen Dialogen, das eine ganz eigene Dynamik entwickelt und den Zuschauer in einen unwirklichen, faszinierenden Kosmos hineinzieht.

Die gesellschaftlichen Veränderungsprozesse in China beschreibt der Film SHENG XI ZHI DI (LIVING THE LAND) von Regisseur Huo Meng, der mit dem Silbernen Bären für die beste Regie ausgezeichnet wurde. Ein Provinzdrama, das die Zeit des Umbruchs in China in einem kleinen Dorf im Jahr 1991 zeigt.
Der Film erzählt von dem zehnjährigen Chang, der bei Verwandten im Dorf aufwächst, weil seine Eltern weit entfernt in der Stadt arbeiten, wo sie ein wesentlich besseres Einkommen erzielen als auf dem Land.

Fast dokumentarisch stellt der Film vier Generationen vor. Wir erleben mit, wie die Veränderungen, die China bewegen, sich auch im Dorf und im Alltag der Bewohner:innen niederschlagen. Ein Blick auf das ländliche Leben Chinas im Übergang zum Industriestaat – eindrucksvoll erzählt und gefilmt.

Dezidiert politische Filme waren im Wettbewerb dieses Jahr eher selten zu sehen.
Im Vordergrund standen Einzelschicksale, aus denen sich politische Botschaften ableiten lassen.
Auch Regisseur Radu Jude verpackt in seinem Film KONTINENTAL ’25 die Kritik an Rumänien, der grenzenlosen Korruption, der Bauwut und der Ausgrenzung der ärmeren Bevölkerung in eine persönliche Geschichte. Er erzählt von den Schuldgefühlen einer Gerichtsvollzieherin, die sich für den Tod eines Obdachlosen verantwortlich fühlt. (Siehe auch „Dreimal Wettbewerb – Meine Favoriten“).
Das kam bei der Jury und ihrem Präsidenten Todd Haynes gut an. Radu Jude wurde mit dem Preis für das beste Drehbuch ausgezeichnet.

TIMESTAMP – ein Dokumentarfilm aus der Ukraine

STRICHKA CHASU / TIMESTAMP ist der einzige Dokumentarfilm im Wettbewerb und zugleich der politisch relevanteste Beitrag. Regisseurin Kateryna Gornostai schildert den Schulbetrieb in der Ukraine, während der russische Angriffskrieg unvermindert anhält. Die Doku entstand zwischen 2023 und 2024.

Gornostai zeigt uns die Situation der Kinder und Jugendlichen an den Schulen in der Ukraine. Unter der ständigen Bedrohung des Krieges, der Bomben und der Zerstörung versuchen sie, so etwas wie einen normalen Schulalltag zu meistern. Mosaikartig, ohne Kommentar und Interviews, beobachtet die Regisseurin das Leben im Krieg.
Den Kindern, Lehrern und Eltern wäre man gerne noch näher gekommen, dennoch ist es ein eindrücklicher, wichtiger Film.

Ein Wettbewerb, dominiert von Filmen unterschiedlichster Machart und Qualität. 19 Filme konkurrierten um den Goldenen Bären. Es gab viele interessante Werke, aber den ultimativen Film, das große Highlight, suchte man auch in diesem Jahr vergeblich.

Starke Dokumentarfilme in den Nebenreihen

Mehrere relevante politische Dokumentarfilme lohnten auch den Blick in die Sektionen Panorama und Forum.

Zwei Filme thematisieren die Situation der von der Hamas festgehaltenen israelischen Geiseln und zeigen, wie die Angehörigen mit der belastenden Situation umgehen: A LETTER TO DAVID von Tom Shoval und HOLDING LIAT der Brüder Brandon und Landon Kramer. Letzterer gewann den mit 40.000 Euro dotierten Dokumentarfilmpreis des Festivals.

HOLDING LIAT erzählt die tragische Geschichte der Lehrerin Liat Beinin Atzili, die am 7. Oktober 2023 von der Terrororganisation Hamas im Kibbuz Nir Oz entführt wurde. Kurze Zeit später begann Regisseur Brandon Kramer mit den Dreharbeiten und begleitete die Familie über mehrere Monate.
Das Spannende an diesem Film ist seine differenzierte Haltung: Er zeigt über die Protagonisten unterschiedliche politische Positionen. Vater Yehuda ist ein Gegner der konservativen Politik Netanjahus. Er wirft ihm vor, nur seine Kriegsagenda zu verfolgen, und setzt sich für Friedensverhandlungen ein. Der älteste Sohn von Liat hingegen, der den Terrorangriff direkt miterlebt hat, fordert Vergeltung.

Im Panorama-Programm lief YALLA PARKOUR, ein Film aus dem Gazastreifen.
Die palästinensische Regisseurin Reeb Zuaiter, die in den USA lebt, erzählt von ihrer Freundschaft zu Ahmed, einem Parkour-Athleten im Gazastreifen. Er schickt ihr Aufnahmen von sich und seinen Freunden aus einer Zeit, in der Gaza noch nicht vollkommen zerstört war.
Die Aufnahmen stammen aus den Jahren 2015 bis 2023, vor dem Krieg. Sie zeigen das Leben im Gazastreifen – Ahmed und seine Freunde beim Training auf verlassenen Gebäuden, Kriegsruinen und am Strand. Der Dokumentarfilm konfrontiert diese Bilder mit aktuellen Aufnahmen – zeigt ein Gaza, das es nicht mehr gibt.

Auch deutsche Dokumentationen machten auf der Berlinale auf sich aufmerksam. Zwei besonders starke Filme thematisieren die mangelnde Aufarbeitung rassistischer Gewalttaten in Deutschland. In beklemmenden Bildern zeigen sie die Folgen für die Betroffenen und Angehörigen: DIE MÖLLNER BRIEFE von Martina Priessner im Panorama und DAS DEUTSCHE VOLK von Marcin Wierzchowski im Berlinale Special. Hoffentlich bald im Kino!

Publikumsliebling Berlinale Special Gala

In der Sektion Berlinale Special Gala war klassisches Erzählkino zu sehen. Auch dieses Jahr gehörte diese Sektion zu den beliebtesten der Berlinale.
Hier liefen die großen Filme mit ihren Stars, die sich auch auf dem roten Teppich zeigten – etwa Timothée Chalamet, Hauptdarsteller in James Mangolds Biopic über Bob Dylan, LIKE A COMPLETE UNKNOWN, oder Robert Pattinson, der gleich doppelt zu sehen war: in Bong Joon Hos brillantem, gesellschaftskritischen Science-Fiction-Thriller MICKEY 17.

PERSPECTIVES – die neue Reihe für Debütfilme

Die von Tricia Tuttle neu geschaffene Sektion PERSPECTIVES für Debütfilme zeigte 14 Produktionen aus der ganzen Welt. Einige Filme waren interessante Blicke in ein experimentierfreudiges Kino, andere zeigten große Talente.
MIT DER FAUST IN DIE WELT SCHLAGEN von Constanze Klaue ist so ein Film – eine Adaption von Lukas Rietzschels gleichnamigem Roman.
Im Fokus stehen die Brüder Philipp und Tobias, die in den 2000er-Jahren in der strukturschwachen ostdeutschen Provinz Lausitz aufwachsen. Beide schließen sich nacheinander der rechtsextremen Szene an. In genau eingefangenen Momentaufnahmen zeigt der Film die Perspektivlosigkeit der jungen Menschen in der Region und den Zerfall der Familie. Ein Debüt, das auch für den Wettbewerb infrage gekommen wäre.

Der mexikanische Regisseur Ernesto Martínez Lucio ist mit seinem Film EL DIABLO FUMA / THE DEVIL SMOKES der Gewinner der neuen Reihe PERSPECTIVES.
Er stellt fünf Geschwister vor, die von ihren Eltern verlassen wurden und nun bei ihrer schizophrenen Großmutter leben. Ein beklemmender Film mit einem außergewöhnlichen Blick auf die Kinder.

Insgesamt zeigte die Sektion interessante Debüts: Einige Regiearbeiten versprechen weitere Erfolge, andere sind erste Experimente, bei denen erkennbar ist, dass die Regisseur:innen noch ihren eigenen Stil entwickeln müssen.

Ein gelungenes Festival

Es war eine spannende und vielfältige Berlinale in diesem Jahr. Neue Formen und Genrekino im Wettbewerb – Filme, die bisher im Herzstück des Festivals so noch nicht zu sehen waren. Spannende und relevante Dokumentationen.
Tricia Tuttle hat mit ihrem Team Akzente gesetzt.
Und: Die 75. Internationalen Filmfestspiele Berlin waren ein großer Publikumserfolg. 336.000 Tickets wurden verkauft – 19.000 mehr als im letzten Jahr. Es gab mehr als 1.000 Vorführungen.
Erfreuliche Zahlen von einer erfolgreichen Jubiläums-Berlinale. Die Vorfreude auf das nächste Jahr steigt!

Tricia Tuttle, Intendantin der Berlinale | copyright berlinale.de
Dag Johan Haugerud (Mitte) Goldener Bär für Drømmer | copyright berlinale.de
Gabriel Mascaro, Großer Preis der Jury für O Ultimo Azul | copyright berlinale.de
Ivan Fund, Silberner Bär Preis der Jury für El Mensaje | copyright berlinale.de
Huo Meng, Silberner Bär Beste Regie für Living the Land | copyright berlinale.de
Radu Jude (2..v. rechts) mit Schauspielern, Bestes Drehbuch für O Ultimo Azul | copyright berlinale.de
Brandon und Lance Kramer, Dokumentarfilmpreis für Holding Liat | copyright berlinale.de
Timothée Chalamet, Darsteller Like a Complete Unknown | copyright berlinale.de
Robert Pattinson, Darsteller Mickey 17 | copyright berlinale.de

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