O ULTIMO AZUL / THE BLUE TRAIL
Regie: Gabriel Mascaro
Es ist ein Blick in eine dystopische Zukunft, den uns der brasilianische Regisseur und Drehbuchautor Gabriel Mascaro in seinem Film O ULTIMO AZUL / THE BLUE TRAIL beschert – Bilder, die bleiben und sich festsetzen.
Mascaros Film spielt in einer nahen Zukunft in Brasilien, in der ältere Menschen nicht mehr gebraucht werden. Sie werden von der Regierung „entfernt“ aus dem gesellschaftlichen Leben, umgesiedelt in abgelegene Seniorenkolonien.
Steigerung der Produktivität ist das Motto: die Alten gehen, die „leistungsfähigen“ Jungen übernehmen.
Was für ein Szenario und doch gar nicht so weit ab von der Realität, wenn man sich die politischen Pläne des populistischen Ex-Präsidenten Bolsonaro anschaut, seine gesellschaftlichen Umwälzungs-und Spaltungsfantasien im Land.
Mascaro entwirft ein fiktives und unheimliches Parallel-Universum. Alte Menschen, die nicht freiwillig „abtreten“ wollen, werden überwacht und schließlich mit Gewalt gezwungen, sich zu fügen. Diesem Schicksal zu entkommen scheint aussichtslos.
Doch die 77-jährige Tereza, charismatisch und höchst überzeugend gespielt von Denise Weinberg, weigert sich, im staatlichen „Wrinkle Wagen“ abtransportiert zu werden. Sie hat noch einen großen Wunsch: einmal im Leben zu fliegen. Nachdem ihr der legale Weg durch ihre Tochter, die jetzt automatisch ihr Vormund ist, verweigert wird, begibt sich Tereza auf eigene Pfade und taucht unter. Sie heuert einen Mann an, der bereit ist, sie illegal mit dem Boot zu einen Ort zu bringen, wo noch private Leichtflugzeuge starten.
O ULTIMO AZUL ist ein Roadmovie – exotisch und farbenprächtig und gleichzeitig erschreckend in seinen Bildern der Armut und des Verfalls. Wir schauen Tereza dabei zu, wie sie sich auf eine Reise durch ihr zerrissenes Land begibt, über die Flüsse und Nebenarme des Amazonas.
Eine Landschaft, die bisweilen wunderschön aussieht, dann wieder gezeichnet ist von Umweltschäden und Verschmutzung. Auch die Menschen, denen Tereza begegnet, sind Zerrissene und ihr nicht immer wohlgesonnen. Korruption und Misstrauen regieren das gespaltene Land. Einige helfen der alten Frau, andere nutzen sie aus. Doch dann trifft Tereza auf Roberta (Miriam Socarrás), eine Verbündete.
Das Zusammenspiel dieser beiden Frauen ist faszinierend, selten sieht man ältere Frauen so kraftvoll und charismatisch auf der Leinwand. Gemeinsam schippern sie auf dem Amazonas einer fernen Zukunft entgegen.
Der Film gibt uns ein hoffnungsvolles Ende mit einem Plädoyer an alle Alten und an die, die es mit Sicherheit auch einmal werden: wach bleiben, Wünsche realisieren, Visionen haben.
Ein faszinierendes Roadmovie zum Thema Altersdiskriminierung, das die Balance zwischen harter Realität und magischen Momenten perfekt auspendelt – für mich ein Anwärter auf einen Bären.
Brasilien, Mexiko, Chile, Niederlande 2025, Weltpremiere
WAS MARIELLE WEISS
Regie: Frédéric Hambalek
Was passiert wenn das eigene Kind plötzlich alles weiß, was die Eltern tun? Würde es Mutter und Vater dann immer noch bedingungslos lieben? Wie würde das die Familienkonstellation verändern? Diesen Fragen ist Frédéric Hambalek in seiner erstaunlich gut funktionierende Komödie nachgegangen.
Marielle hat sich im Streit mit ihrer Freundin eine heftige Ohrfeige eingehandelt, die Nachwirkungen sind erstaunlich bis unheimlich. Plötzlich hat sie telepathische Kräfte, kann alles sehen und hören was ihre Eltern treiben.
So konfrontiert Marielle ihre verblüfften Eltern beim Abendbrot mit Wahrheiten, die sich die beiden untereinander nie erzählen würden und schon gar nicht ihr halb erwachsenen Tochter. Zum Beispiel das heimliche Rauchermeeting der Mutter Julia (Julia Jentsch) mit einem Kollegen, inclusive deftigem verbalen Flirt.
„Du rauchst wieder“, fragt Ehemann Tobias (Felix Kramer) schockiert?
Auch das despotische Fehlverhalten Tobias einem Kollegen gegenüber kommt unbarmherzig ans Licht, obwohl er doch gerade noch stolz berichtet hatte, wie souverän er die Situation gemeistert habe.
Anfangs können die Eltern nicht glauben, dass Marielle wirklich Gedanken lesen kann, doch schon bald erkennen sie, dass sie ihr Leben komplett umstellen müssen. Die Konsequenz: sämtliches Reden und Handeln wird fortan gefiltert und dazu genutzt, sich möglichst einwandfrei und ohne Fehler zu präsentieren – vor der Außenwelt, vor dem Ehepartner und vor allem vor Marielle. Die erkennt sofort jede Verstellung und Lüge. Also wird manipuliert, sich verstellt, jede Situation im Alltag mit Blick auf die allwissende Marielle durchdacht und inszeniert, Manipulation pur.
Hambaleks Film ist eine spannende Versuchsanordnung. Es ist sein zweiter Spielfilm mit eher kleinem Etat gedreht, Förderer sind unter anderem der Deutscher Filmförderfonds (BKM), die Filmförderungsanstalt (FFA) und
das ZDF.
Es geht um verborgene Konflikte, die in jeder Familie anfallen, um Heimlichkeiten, unbequeme Wahrheiten, Peinlichkeiten, die gerne unter den Tisch fallen. Geschickt seziert der Film das Rollengefüge im Mikrokosmos Familie.
Dank des ausgeklügelten Drehbuchs und des überzeugenden Schauspieler- Ensembles funktioniert der Film hervorragend. Die Story spitzt sich genüsslich zu und eskaliert in einer gelungen Balance aus Komödie und Drama.
Ein kleiner Film mit großer Wirkung – preiswürdig.
Deutschland 2025, Weltpremiere
KONTINENTAL ’25
Regie: Radu Jude
Ein Mann stapft fluchend durch den Wald, er sammelt Flaschen. Als er Rast macht, sieht man neben ihm einen riesigen, brüllenden Dinosaurier. Aus Kunststoff – wir sind in einem Dino-Park.
Es ist das Komische im Tragischen, das Radu Judes Filme stark macht, sein genauer, sezierender Blick auf die Menschen und das Sozialgefüge im Rumänien des 21. Jahrhundert.
In KONTINENTAL ’25 erzählt er von einem Obdachlosen in der rumänischen Stadt Cluj-Napoca/ Klausenburg. Als die Gerichtsvollziehern (Eszter Tompa) mit ihrem Trupp auftaucht, um ihn zur endgültigen Räumung seines Quartiers in einem Heizungskeller aufzufordern, erbittet er sich 20 Minuten. Orsolya und ihr Team finden ihn nicht mehr lebend, er hat sich am Heizkörper stranguliert.
Der Tod des Mannes ist der eigentliche Aufhänger des Films, denn Orsolya kommt über diesen schrecklichen Vorfall nicht hinweg. Sie fühlt sich schuldig und versucht vergeblich in zahlreichen Gesprächen Erleichterung zu finden. Zunächst bei ihrem Mann. Später bei ihrer Mutter, einer gebürtigen Ungarin, die die Rumänen hasst und mit Orbans Faschismus liebäugelt. Man trennt sich im Unfrieden.
Auch bei einer Freundin sucht Orsolya Hilfe. Die beschwichtigt sie und erzählt von einem Obdachlosen, der vor ihrem Haus kampiere und sie mit seinem Gestank belästige, dem sie aber leider nicht helfen könne und wolle. Aber sie sei Mitglied einer NGO für Obdachlose, die sie mit Geld unterstütze.
Herrlich, dieser Dialog der beiden Frauen zwischen schlechtem sozialen Gewissen und Rechtfertigung.
Orsolya besucht sogar einen Pfarrer. Nachdem er einen Jungen verscheucht und ihm Prügel angedroht hat, hält er salbungsvolle Reden und empfiehlt Gottvertrauen.
Radu Jude legt den Finger auf die Wunden. Er seziert in einer Mischung aus Drama und Komödie die gesellschaftliche Doppelmoral und ihre Auswüchse, den ausufernden Nationalismus im heutigen Rumänien, die immer extremer werdenden Klassenunterschiede und die Armut und Wohnungsnot im postsozialistischen Staat.
Bombastische Tempel neben verfallenden Wohnsiedlungen und Baracken, Abriss und Neubau für die Wohlhabenden.
Gespiegelt durch die Figur Orsolya thematisiert Radu Jude auch die Diskriminierung der ungarischen Minderheit im ehemaligen Siebenbürgen, die bis heute nicht aufgearbeitete Geschichte der Region um Grenzen, ethnische Säuberungen und nationale Identitäten.
Jude ist bekannt für sein scharfes, hochaktuelles Gegenwartskino. 2021 bekam er für seine bissige Dramödie BAD LUCK BANGING OR LOONY PORN den goldenen Bären auf der Berlinale. Der Film zeigt drastisch die Welt Rumäniens zu Zeiten von Covid – Hass, Sexismus und Nationalismus.
2015 konnte Radu Jude schon einmal auf der Berlinale glänzen. Für seinen Historienfilm im Rumänien des 19. Jahrhundert AFERIM wurde er mit dem silbernen Bären für die beste Regie ausgezeichnet.
KONTINENTAL ’25 ist im Vergleich zu BAD LUCK BANGING OR LOONY PORN ein eher ruhiger Film. Er besticht durch intensive, ausgefeilte Dialogszenen.
Immer wieder Thema in KONTINENTAL ’25 ist die Diskrepanz zwischen einem geordneten Mittelstandsleben und der stetig wachsenden Anzahl von Menschen, die auf der Straße und im Untergrund leben. Wie verhält man sich, gut gesettelt, in einem Eigenheim mit Mann, Kindern, angesehenem Beruf, angesichts der zunehmenden Armut und Not? Ist das nicht eine Zumutung für den gut situierten Mittelstand? fragt der Film sarkastisch
KONTINENTAL ’25 – eine böse Satire und zugleich ein kluger, hochaktueller Film über die heutige Gesellschaft, weit über Rumänien hinaus. Bärenverdächtig.
Rumänien 2025, Weltpremiere