Flucht – und Migrationsgeschichten im Spielfilm – vielleicht verdeutlichen sie sogar noch eindringlicher als Dokumentarfilme die Unmenschlichkeit europäischer Migrationspolitik. Indem sie Einzelschicksale durch die Spielhandlung verdichten und fokussieren, werden die inhumanen Hintergründe von Flucht noch plastischer. Der italienische Regisseur Matteo Garrone führt uns das mit seinem vielfach ausgezeichneten und inzwischen Oscar nominierten Werk ICH, CAPITANO (2023) vor. Der Film erzählt die Fluchtodyssee zweier afrikanischer Jugendlicher aus dem Senegal und folgt ihrem mühsamen und lebensbedrohlichen Weg nach Europa.
Jetzt legt Regisseurin Yasemin Şamdereli einen weiteren beeindruckenden Spielfilm zum Thema vor. Ihr Biopic SAMIA schildert die wahre Lebensgeschichte der somalischen Leichtathletin Samia Yusuf Omar aus Somalia (1991 bis 2012). Als schnellste Läuferin ihres Landes nahm sie 2008 an den olympischen Spielen in Peking teil.
Basierend auf dem biographischen Roman „Mit Träumen im Herzen“ von Giuseppe Catozzella schrieb Yasemin Şamdereli gemeinsam mit ihrer Schwester Nesrin Şamdereli auch das Drehbuch zum Film, im engen Austausch mit dem italienischen Autor.
Şamdereli, die sich auch schon in ALMANYA – WILLKOMMEN IN DEUTSCHLAND( 2011) mit dem Thema Migration auseinandersetzte, zeichnet ein eindringliches Porträt der Sportlerin, gleichzeitig gelingt es der Regisseurin ein prägendes Bild des Landes und der Menschen auf die Leinwand zu bringen.
Yasemin Şamdereli
,,Wie sehr man für etwas brennt, wie sehr man etwas liebt und an etwas glaubt, lässt sich gut daran ablesen, wie lange man bereit ist, dafür zu kämpfen. Was man alles bereit ist, dafür zu tun, zu opfern, um das Projekt in die Tat umzusetzen. SAMIA ist seit acht Jahren mein absolutes Herzensprojekt. An kein Projekt und an keine andere Geschichte habe ich so sehr geglaubt wie an die Lebensgeschichte der somalischen Leichtathletin Samia Yusuf Omar. Für kein Projekt habe ich nach ALMANYA – WILLKOMMEN IN DEUTSCHLAND so sehr gekämpft.„
Der Film spielt Ende der 1990iger bis zum Jahr 2012 und schildert das Leben dieser außergewöhnlichen jungen Frau. Sie wächst in einem Land auf, das vom Bürgerkrieg gezeichnet und zerstört ist und in dem die Islamisten die Macht übernehmen. Islamistische Milizen patrouillieren in Somalia durch die Straßen, Männer mit Waffen bestimmen willkürlich den patriarchalischen Alltag. Frauen haben keine Rechte, sie müssen sich verschleiern und dürfen schon gar nicht Sport treiben.
In Rückblenden lernen wir Samia als Heranwachsende kennen, ein Mädchen, das mit ihrer Familie in ärmsten Verhältnissen lebt. Schon als 9-jährige sticht sie durch ihre außergewöhnliche sportliche Leistung hervor, sie ist die schnellste Läuferin im Dorf. Jeden Morgen läuft sie mit ihrem besten Freund auf dem Schulweg um die Wette. Bald sieht er ein, dass er keine Chance gegen sie hat und schlägt ihr vor, ihr Trainer zu werden. Die beiden trainieren versteckt. Während die Mutter versucht, Samia zurückzuhalten, ermutigt sie ihr Vater, verspricht ihr sogar echte Turnschuhe.
Wenn Samia läuft, leuchtet ihr Gesicht, sie ist glücklich, frei – alle repressiven Fesseln scheinen vergessen. Das Biopic schaut auf das Leben der jungen Afrikanerin, zeigt sie als Kind, als Jugendliche und als junge Frau, atmosphärisch dicht eingefangen von der Kamera von Florian Berutti.
Yasemin Şamdereli war es wichtig, eine möglichst realistische und lebensnahe Atmosphäre Afrikas in ihrem Film zu verwirklichen. So suchte und fand sie ihre somalische Koregisseurin Deka Mohamad Osman. Die Dreharbeiten fanden nicht in Somalia statt, das Land ist immer noch von Terror und Krieg bedroht und die Sicherheitslage ist kritisch.
Yasemin Şamdereli
,,Da wir nicht in Somalia drehen konnten, mussten wir den Ort finden, der die besten Voraussetzungen hat, um „Somalia“ als Filmrealität dort zu erschaffen. Die in Somalia spielenden Szenen entstanden in Kenia, in Malindi … Stets an meiner Seite war meine großartige Partnerin Deka Mohamed Osman. Deka war einfach meine bessere, somalische Hälfte. Für die Teammitglieder und Schauspieler, die kein Englisch konnten, war sie die Ansprechpartnerin. …Deka hat sich auf den Dialog konzentriert und geschaut, dass der richtig war, und wenn nicht, dann hat sie mir das mitgeteilt… Wir haben versucht, das so authentisch wie möglich zu machen.„
Das ist gelungen, das Leben am Rande vom Mogadischu, die Beziehungen der Familienmitglieder untereinander, der Ablauf des Alltags, alles wirkt unmittelbar und echt.
Der Film schildert wie Samias Leben und das ihrer Familie von Unruhen und Repressalien bedroht wird. Immer öfter gibt es Anschläge und Bombendetonationen, bei einer Explosion kommt auch der Vater Samias ums Leben.
Als junge Frau muss sie erleben, wie islamistische Gruppierungen endgültig die Macht im Land ergreifen – ein Leben unter permanenter Bedrohung. Öffentliche Veranstaltungen und Musik sind verboten, die Verschleierung von Frauen ist Pflicht, Frauensport absolut untersagt. Doch Samia ist ehrgeizig, sie trainiert nachts auf einem verlassenen Sportplatz heimlich weiter, tagsüber kann sie sich als Frau nur verhüllt durch die immer unsicherer werden Straßen bewegen.
Yasemin Şamdereli
,,Giuseppe Catozzellas Buch gibt nicht nur einen berührenden Einblick in die Familiengeschichte von Samia, sondern schafft es, die großen und grundlegenden Probleme dieser Region eindrucksvoll darzustellen und zu zeigen, warum Menschen aus Afrika fliehen müssen. Warum sie ihre Heimat verlassen und immer wieder die lebensgefährliche Reise über das Mittelmeer riskieren, um in Europa ein neues Leben zu beginnen. Was ihre Hoffnungen sind und warum Europa für viele die letzte Chance bedeutet. Eine Chance auf ein lebenswürdiges Leben. Eine Chance, sich und der eigenen Familie zu helfen. Eine Chance, man selbst sein zu dürfen.„
Mit 17 Jahren schafft es Samia tatsächlich, als einzige weibliche somalische Sportlerin bei den olympischen Spielen in Peking dabei zu sein. Bei der Eröffnungsfeier trägt sie stolz die Flagge ihres Landes. Sie erreicht beim 200 Meter Lauf 32,16 Sekunden, ihre persönliche Bestzeit, scheidet jedoch im Vorlauf aus. Doch sie hat sich längst in die Herzen des Publikums „gelaufen“ und wird euphorisch gefeiert.
Zurück in Somalia nehmen die Repressionen zu, Samia bekommt keine Unterstützung als Athletin, erhält sogar Todesdrohungen. Schließlich entscheidet sie sich zur Flucht, die Situation in Somalia ist für sie zu gefährlich geworden. Außerdem hofft sie, bei den olympischen Spielen in London 2012 wieder als 200 Meter Läuferin für Somalia antreten zu können.
SAMIA wurde in insgesamt vier Ländern gedreht, in Kenia, Italien, Tunesien und Deutschland. Besonders eindringlich und traumatisch sind die Bilder der Flucht Samias: durch den Sudan nach Libyen, dort besteigt sie ein Boot, um die italienische Küste zu erreichen.
In erschreckend realistischen, zum Teil fast dokumentarisch anmutenden Szenen zeigt das Biopic den Weg der Flucht: die erpresserischen Schleuser, die menschenunwürdige Gefangennahme im Sudan, die Weiterfahrt durch die Wüste, eingezwängt in Fluchtfahrzeuge, in denen die Menschen nach Luft ringen. Schließlich die Ankunft in Libyen und die Hoffnung, auf dem Seeweg über das Mittelmeer nach Italien zu gelangen. Dort wird Samia nie ankommen. Das Ende ist bekannt und nachzulesen, Samia Yusuf Omar wurde nur 21 Jahre alt.
Das alles erzählt Yasemin Şamdereli nicht stringent, sondern in Zeitsprüngen und Rückblenden, die ineinander verschachtelt sind – so verdichtet sie die Handlung und greift weit aus.
Vor allem den beiden Hauptdarstellerin der Samia ist es zu verdanken, dass der Film trotz der tragischen Ereignisse auch Hoffnung signalisiert und stimmungsvolle, positive Momente zeigt. Riyan Roble spielt die kindliche Samia, Ilham Mohamed Osman verkörpert sie als junge Frau. Beiden Schauspielerinnen gelingt es, Samias Optimismus, ihren Kampfgeist und ihre Lebensfreude zu verkörpern – ein starker Kontrast zu den tragischen Ereignissen auf der Flucht.
SAMIA ist ein Film, der berührt, eine wahre Geschichte. Er überzeugt durch seine authentische Atmosphäre, die beeindruckenden Schauspieler und die genaue und sensible Kameraarbeit – und er wirkt nach, lange Zeit.
Filmtitel: SAMIA
Regie: Yasemin Şamdereli in Zusammenarbeit mit Deka Mohamed Osman
Drehbuch: Yasemin Şamdereli, Nesrin Şamdereli, Guiseppe Catozzella
Mit: Ilham Mohamed Osman, Fathia Mohamed Absie, Fatah Ghedi, Elmi Rashid Elmi, Waris Dirie, Riyan Roble, Zakaria Mohammed
Produktion: Italien, Deutschland, Belgien, Schweden 2024
Lauflänge: 102 Minuten
Verleih: Weltkino
Kinostart: 19. September 2024