Es geschieht nicht oft, dass Kinofilme eine Art meditativen Sog entwickeln, so intensiv, dass sich die Distanz zwischen Leinwand und Zuschauer aufzulösen scheint. So ging es mir in Pedro Almodóvars neuem Film THE ROOM NEXT DOOR.
Die beiden Hauptdarstellerinnen Tilda Swinton und Julianne Moore sind in ihrer Präsenz, ihrer Nähe zueinander und in der Intensität ihres Spiels großartig. Nuanciert und authentisch liefern sie eine außergewöhnliche Performance in einem Kammerspiel, das nie die Balance verliert.
Für seinen Film bekam der der 75 jährige Pedro Almodóvar dieses Jahr in Venedig den Hauptpreis des Festivals, den Goldenen Löwen.
THE ROM NEXT DOOR ist Almodóvars erster englischsprachiger Kinofilm. In dem Roman der US-Schriftstellerin Sigrid Nunez WHAT ARE YOU GOING THROW, (WAS FEHLT DIR) fand er die Vorlage für seinen Film.
Ein schweres Thema, es geht um das Sterben.
Martha, ehemalige Kriegsreporterin (Tilda Swinton) und Ingrid, erfolgreiche Schriftstellerin (Julianne Moore) waren in ihrer Jugend eng befreundet und haben sich dann über viele Jahre aus den Augen verloren. Als Ingrid erfährt, dass ihre Freundin an Krebs erkrankt ist, sucht sie Martha im Krankenhaus auf. Die Vertrautheit und Nähe zwischen den beiden Frauen stellt sich bald wieder ein.
Martha hat Gebärmutterkrebs, unheilbar. Sie entscheidet sich, den Zeitpunkt ihres Todes selbst zu bestimmen. Im Darknet hat sie sich eine Euthanasiepille besorgt, mit der sie friedlich „einschlafen“ will. Sie bittet Ingrid, in ihrer Nähe zu sein, wenn es soweit ist. Nach längerem Zögern willigt die Freundin ein.
Sterbehilfe, eine brisante und hochaktuelle Thematik. Doch Almodóvar macht aus dem kontrovers diskutierten Thema kein trockenes Filmplädoyer. Sein Melodram besticht durch Leichtigkeit und Ehrlichkeit und bisweilen durch feinen Humor.
Der Altmeister konzentriert sich auf seine beiden Hauptdarstellerinnen, es gibt nur wenige Nebenfiguren. Kurze Rückblenden ergänzen die Biographie Marthas, zeigen sie als junge und engagierte Reporterin in Krisengebieten. Beeindruckend: der Kontrast zwischen der aktiven Martha in jungen Jahren und der kranken älteren Frau, beide Rollen meistert Tilda Swinton souverän. Gegen Ende des Films taucht sie noch einmal auf, diesmal verkörpert sie ihre eigene Tochter. Vielleicht die einzige Fehlentscheidung des Regisseurs, eine weniger bekannte, jüngere Schauspielerin mit ähnlichen Zügen hätte überzeugender gewirkt.
Auch wenn THE ROM NEXT DOOR in New York und in Neuengland spielt – das „Almodóvar Universum“ ist unmittelbar präsent. Seine Themen: Liebe, Verlust, Leidenschaft, Tod, spiegeln sich auch in seinem neuen Film. Die opulente Ausstattung, der artifizielle Farbenmix, kräftige Töne in Kostümen und Setting, bis ins Detail abgestimmte, kunstvoll eingerichtete Räume verweisen auf die Handschrift des Altmeisters. Die ruhige und sehr präzise Kamera von Eduard Grau und der Score von Alberto Iglesias verleihen dem Werk seine eigene künstlerische Atmosphäre.
Als „letzten Ort“ hat Martha ein Ferienhaus in Neuengland gemietet, dorthin ziehen sich die Freundinnen zurück. Mehrere Räume, schöne Zimmer, ein Luxus-Ambiente. Es gibt eine Verabredung: wenn die Tür von Marthas Zimmer am Morgen geschlossen ist, wird es geschehen sein, dann hat Martha die Pille genommen und Ingrid wird die abgesprochenen Maßnahmen treffen.
Bis dahin sind die beiden zusammen: schauen Filme, gehen spazieren, teilen ihre Erinnerungen. Sie sprechen über das Leben, die vergangenen Liebhaber und die Kunst – und über das Sterben. Martha bedauert die fehlende Nähe zu ihrer Tochter, es bedrückt sie, keine gute Mutter gewesen zu sein. Der Beruf war ihre Passion, häufige Auslandseinsätze und Reisen haben verhindert, dass Mutter und Tochter ein vertrauensvolles Verhältnis zueinander fanden.
Auch wenn es den Anschein hat, dass Ingrid ausgeglichen und empathisch für Martha sorgt, verschweigt die Filmhandlung nicht die Ängste und Zweifel, die Marthas Entscheidung in ihr auslösen.
Sie trifft ihren Ex, auch ein Ex von Martha (John Turturro) außerhalb des Hauses und ohne Wissen ihrer Freundin. In solchen Szenen wird die Authentizität des Drehbuchs deutlich, Almodóvar beweist sich einmal mehr als Aufspürer zerrissener Gefühle und Ambivalenzen.
Seit den 80igern ist Spaniens wichtigster Regisseur mit seinen Filmen präsent, vielfach ausgezeichnet. Almodóvar ist ein Meister des Melodrams, ein Regisseur der Frauen, die oft im Zentrum seiner Filme stehen. Ob in FRAUEN AM RANDE DES NERRVENZUSAMMENBRUCHS (1988), ALLES ÜBER MEINE MUTTER (1999) VOLVER (2006), LEID UND HERRLICHKEIT(2019) oder PARALLELE MÜTTER (2021) – seine Themen in schrillen Komödien und Melodramen kreisen immer um die existentiellen Fragen von Liebe, Zerrissenheit, Leidenschaft, Trauer und Tod.
Dieses Mal ist es das zentrale Thema – wie endet ein Leben geprägt von Passion, Engagement und Enthusiasmus – wie setzt der Mensch sich auseinander mit dem Alter, mit dem Sterben?
Und doch ist THE ROM NEXT DOOR kein trostloser Film. Es gibt leichtfüßige Dialoge, die Umgebung ist licht und versöhnlich, das Haus am Wald spendet Frieden. Zugegeben, ein luxuriöser letzter Ort vor dem Ende.